Kapitel 72

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Es hatte an der Tür geklingelt und ich hatte den Öffner gedrückt. „Luda?" Espie war mit einem hoffnungsvollen Gesichtsausdruck neben mir aufgetaucht. Ja, sie vermisste Luca ziemlich, denn nach der Ansage seines Vaters hatte er sich natürlich sofort einen Job gesucht und auch gefunden. Aber das bedeutete auch, dass er Espie natürlich nicht mehr in die Kita brachte und auch abholte. Da musste sie nun mit mir Vorlieb nehmen. „Luca hat doch einen Schlüssel, der klingelt nicht", erinnerte ich sie. „Das muss Besuch sein."  Ihre Augen wurden groß und fingen an zu strahlen „Such!" Ich nickte „Ja, Besuch." „Leo und Milo?" Das war Neugier gepaart mit Hoffnung. Klar, sie mochte Leokardia, die früher oft auf sie aufgepasst hatte und ihr kleinen Adoptivsohn Emilio war ein super Spielgefährte. „Ich weiß es nicht. Wollen wir mal schauen?" Natürlich erntete ich sofort ein enthusiastisches Nicken und öffnete die Wohnungstür. „Hallihallo, ihr konntet uns wohl gar nicht erwarten." Lucy winkte uns lachend von den letzten Treppenstufen aus zu. Sie setzte Paolo auf der Erde ab und er kam auf uns zu geschaukelt. Mit den beiden hatte ich nicht wirklich gerechnet. Aber ich freute mich sie zu sehen. Espie drückte sich an mir vorbei und begann vor Freude zu hüpfen. „Hallo, Polo." „Das heißt Paolo!", hörte ich eine belehrende Mädchenstimme und hinter Lucy tauchte Carmen auf, die noch ihren Schulrucksack auf dem Rücken hatte. „Was macht ihr denn hier?" Ich umarmte meine Freundin zur Begrüßung. „Wir dachten, wir besuchen euch mal und schauen, wie es meinem Bruder so geht."  „Ja, Dumbo war schon viel zu lange nicht mehr bei uns", Carmen schaute mich vorwurfsvoll an. Scheinbar gab sie mir wohl die Schuld daran. Okay, nach unserer gemeinsamen Vergangenheit konnte ich ihr das wohl nicht verübeln, dass sie mich als den Schuldigen für alles, was auf der Welt schief lief, ausmachte, zumindest wenn ich dazu eine Verbindung hatte. Glücklicherweise schob sie mir also nicht auch noch die Schuld an dem scheinbar immerwährenden Nahost Konflikt und der Hungersnot in den Dritte-Welt-Ländern zu. „Wo ist denn Dumbo?" Carmen schaute sich suchend in unserem Wohnzimmer um, während Espie Paolo schon zu ihrem Spielzeug auf die Erde gezogen hatte. „Wenn ihr Glück habt, kommt er gleich." „Was heißt hier Glück?" Lucy schaute mich verwundert an, während wir uns auf das Sofa setzten. „Na ja, er hat doch eine Job als Fahrradlieferant und da ist nicht wirklich immer pünktlich Schluss, wenn noch ein Auftrag reinkommt." In den letzten Tagen hatte er des öfteren eine Doppelschicht geschoben, weil ein Kollege sich krank gemeldet hatte. „Du hast aber versprochen, dass Dumbo da ist!" Carmen schaute Lucy enttäuscht an. „Er wird schon gleich kommen. Und solange setzt du dich da an den Tisch und machst deine Hausaufgaben." Lucy deutete zu meinem Schreibtisch. „Das ist doch okay?" „Ja, klar." Ich stand auf und räumte ein paar meiner Unterlagen beiseite, damit Carmen genug Platz hatte. Das brachte mir wieder einen finsteren Blick der Kleinen ein. Okay, da hatte wohl jemand keine Lust auf Hausaufgaben. „So und jetzt erzähl, was Luca da für einen blöden Job hat", fiel Lucy gleich wieder über mich her, kaum dass ich mich wieder zu ihr gesetzt hatte. Ich hörte das Schließen der Eingangstür. „Frag ihn das am besten selbst." Ja, ich verstand einerseits schon, warum er diesen Job machte, aber andererseits auch nicht. Ich hatte ihm mehr als nur einmal angeboten, dass das Geld, das ich verdiente für uns drei reichte. Das hatte aber wohl etwas mit seinem Stolz zu tun, dass er nicht in die nächste Abhängigkeit rutschen wollte. Vielleicht hätte mir ein wenig mehr Stolz damals auch nicht geschadet.....

Noch immer völlig schockiert davon, dass Andreas nicht einmal mit mir hatte sprechen wollen, ließ ich mich auf den Barhocker sinken. Ich brauchte jetzt erst einmal etwas um den Schock hinunter zu spülen. Was sollte ich denn jetzt machen? Mein Geld reichte nicht mehr für noch ein paar Tage Hotel. Das hieß, ich hatte weder eine Bleibe noch einen Job. Viel schlimmer, ich hatte nicht einmal einen Plan wie es mit mir weitergehen sollte. Vielleicht sollte ich meine gut situierten Kunden, in der Hoffnung einen Auftrag zu bekommen, einmal durchtelefonieren. Ich bestellte mir einen Long Island Ice Tea beim Barkeeper und zückte mein Handy. Meine beiden ersten Anrufe waren alles andere als erfolgreich. Aber immerhin hatte ich mich erst einmal wieder in Erinnerung gebracht und konnte darauf hoffen, dass ich doch irgendwann wieder einen Anruf von den Kerlen erhielt. Das nützte mir aber gerade in meiner momentanen Situation wenig. Kein Geld, kein Job, das war einfach Scheiße. Ich nahm einen großen Schluck von meinem Cocktail und spürte das Brennen von dem Rum in meiner Kehle. „Hallo, schöne Frau. So alleine? Darf ich mich dazu setzen?" Ich nickte nur und warf einen kurzen Seitenblick auf den Kerl. Also er sah nicht nach Reichtum aus, aber auch nicht verarmt. Vielleicht war er ja meine vorübergehende Rettung. Schnell zauberte ich mir mein ansprechendes Lächeln ins Gesicht und wandte mich ihm zu. „Hallo, ich bin Marlen." Ich reichte ihm die Hand. „Ich bin Carlo"  „Carlo, welch außergewöhnlicher Name."  Er grinste breit „Ja, genauso außergewöhnlich wie deine hübsche Erscheinung. Darf ich die noch einen Drink bestellen?" Na da sagte ich doch nicht nein. Und wer weiß, was sich vielleicht noch alles ergab....

Heute wusste ich es. Dieses Aufeinandertreffen war der Anfang vom Ende gewesen. Tja, hätte ich mehr Stolz gehabt, hätte ich mir einen richtigen Job gesucht und nicht versucht auf Kosten anderer zu leben, denn das hatte sich ziemlich schnell in einen Trugschluss verwandelt und jemand anderes hatte auf meine Kosten gelebt.
„Dumbo!" Carmen war von ihrem Platz aufgesprungen und zu Luca gerannt, um ihn zu umarmen. „Wir haben ja Besuch. Hallo, Flipper." Er hob die Kleine an und drehte sich mit ihr im Kreis. Nachdem er sie wieder abgesetzt hatte, begrüßte er erst einmal mich mit einem Kuss und dann Espie und Paolo. „Hallo Bruderherz, schön, dass du mich auch noch wahrnimmst", kicherte Lucy, als sie als letzte an der Reihe war. „Sag mal wieso machst du so einen Scheißjob? Da weiß doch jeder, dass man da nur ausgebeutet wird." Ja, Lucy war nicht wirklich für ihre Diplomatie bekannt. Sie fuhr eher die Taktik Abrissbirne.

Frohes neues Jahr 2023 🍀🍀🍀🐷🐷🐷🎊🎊🎊🎉🎉🎉🍾🍾🍾

Schuss und Treffer - zum Comeback    ✔️    Teil 12Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt