Kapitel 3

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Ich schnappte mir das Netz mit dem Weihnachtsbaum und schleifte es hinter mir her. Verdammt, war das schwer. So schwer war mir unsere kleine Tanne auf dem Fahrrad, das ich gerade in den Fahrradkeller getragen hatte, gar nicht vorgekommen. „Komm Espie, jetzt bringen wir unsere Tanne an ihren Platz", schnaufte ich meiner Tochter wie ein altes Walross bereits nach dem ersten Treppenabsatz zu. Na supi, es waren ja nur noch zwei Etagen. Warum wohnten wir eigentlich nicht im Hochparterre sondern in der zweiten Etage? Das würde mir das Geschleppe ersparen. Wir hätten nicht einmal einen Weihnachtsbaum kaufen müssen, weil wir dann sogar einen kleinen Garten hätten. Warum und weshalb war aber egal, denn es zählte nur das, was war. Und das waren noch mindestens 35 Stufen, die uns von unserer warmen gemütlichen Wohnung trennten. „Mama, is hilf." Espie beeilte sich sich am Gelände die nächste Stufe hochzuziehen und mit am Netz des Baums anzufassen. „Danke, mein Sonnenschein." Auch wenn ich jetzt auch noch meine Tochter zusammen mit dem Baum die Treppen hochziehen musste, wärmte mir die Hilfsbereitschaft meiner kleinen Maus das Herz. Ja, wir beide waren ein eingeschworenes Team seit der ersten Sekunde.....

„Gleich haben Sie es geschafft." Die Hebamme lächelte mich an und tupfte mir den Schweiß von der Stirn. Ich war jetzt seit ungefähr einer Stunde im Kreißsaal. Alleine.....also nicht ganz, natürlich war auch die Hebamme hier, aber so war ich alleine. Als meine Fruchtblase geplatzt war, hatte ich das Storchentaxi gerufen und war in die Klinik gefahren. Ich hatte überlegt, ob ich Lucy anrufen sollte. Sie hatte es mir angeboten. Irgendwie war sie ja trotz allem, was ich ihr angetan hatte, mein guter Engel. Ohne sie und Tessa würde ich wahrscheinlich immer noch irgendwo auf der Straße leben. Alleine bei dem Gedanken schüttelte es mich. Nee, auf der Straße sollte niemand leben müssen. Trotzdem erschien es mir irgendwie nicht passend Lucy anzurufen. Ich wollte nicht wieder dafür sorgen, dass es irgendwelchen Ärger zwischen ihr und Andreas wegen mir gab. Außerdem hatte sie gerade erst geheiratet. Nein, ich würde das hier ganz alleine schaffen. Ich hatte es schließlich schon einmal geschafft. Und da war ich viel jünger. Schnell verdrängte ich den Gedanken. Nein da wollte ich jetzt auf keinen Fall dran denken. Diesmal würde mir niemand mein Kind wegnehmen. Dafür würde ich sorgen. Außerdem war ich mittlerweile eine starke Frau, die alles alleine auf die Ketten bekam. Wozu brauchte man schon einen anderen Menschen an seiner Seite. Auf die war sowieso kein Verlass. Spätestens wenn es eng wurde und man sie wirklich brauchte, waren sie verschwunden. Nee, das stimmte so nicht wirklich, wie ich in letzter Zeit hatte feststellen dürfen. Lucy und Tessa hatten sich nicht einmal durch meine Bösartigkeit vertreiben lassen. Und das, obwohl ich fast ihre Mutter sein könnte. Aber das waren auch wirklich zwei Ausnahmen. Nein, waren es nicht, korrigierte ich mich. Auch ihre Mütter hatten mir geholfen. Ohne sie hätte ich niemals die Chance bekommen als Übersetzerin zu arbeiten und eine möblierte Wohnung mein eigen zu nennen. Eine Welle der Dankbarkeit durchströmte mich. „Ahhhh" Das war die nächste Wehe, die sich anbahnte. „Bei der nächsten Wehe dürfen Sie pressen." Ich nickte nur mit zusammengebissenen Zähnen. Ich wollte, dass diese Schmerzen endlich aufhörten. So langsam war ich am Ende. Nein, schimpfte ich mit mir selbst. Ich war vor gar nicht so langer Zeit wirklich am Ende. Jetzt stand ich am Anfang......am Anfang eines ganz neuen Lebens mit meinem kleinen Baby. „So, jetzt pressen", feuerte mich die Hebamme an. Mit all meiner Kraft folgte ich ihren Anweisungen.....und dann wurde es auf einmal ganz leicht. „Da habe wir ja ihre kleine Tochter." „Eine Tochter?", japste ich. Ich hatte mir bei den paar Vorsorgeuntersuchungen, bei denen ich war, das Geschlecht nicht sagen lassen. Nein, ich wollte es nicht vorher wissen, weil ich immer noch Angst hatte, dass etwas dazwischen kam oder schief lief. Man hatte ich eine Angst davor gehabt, weil ich doch auf der Straße gelebt hatte und vorher als..... nein, das war jetzt der falsche Moment für solche Gedanken. Jetzt musste ich kein schlechtes Gewissen haben, weil ich nicht die ganze Schwangerschaft über ein Leben geführt hatte, wie es angemessen gewesen wäre. Es war ja nicht so, dass ich mir das wirklich ausgesucht hatte, mich mit Freiern über Wasser zuhalten bis es nicht mehr ging. Ich schloss kurz meine Augen, um die Gedanken zu verdrängen. Nein, sie gehörten hier nicht hin. Jetzt war der Augenblick für Freude.„Ja, ein süßes kleines Mädchen, an dem alles dran ist, was dran gehört", lachte die Hebamme. „Schauen Sie doch." Sie legte mir das kleine knautschige rosige Wesen auf meine Brust. Und ich hörte ein leichtes Schluchzen. Sofort strich ich mit meiner Hand sanft über den leichten hellen Flaum auf dem kleinen Köpfchen meiner kleinen Tochter. Mit einem Schlag spürte ich eine unglaubliche Wärme, die durch meinen Körper flutete. Diese Gefühl hatte ich noch nie in meinem ganzen Leben. Und mir war schlagartig klar, dass ich es nie wieder verlieren wollte. Nein, ich würde für dieses kleine Menschenwesen in meinen Armen alles mir Mögliche machen. Ich würde sogar meine eigenes Leben dafür opfern, damit es meiner kleinen Esperanza Salvadora Mercedes immer gut gehen würde. Ab sofort stand sie an meiner ersten Stelle. So wie sie sich an mich kuschelte, zählte das wohl auch für sie. Ich spürte wie mir Tränen über meine Wangen liefen. Ja, wir beide würden für immer untrennbar verbunden sein. Dafür würde ich sorgen.....

Total erschöpft setzte ich meinen Fuß auf die letzte Stufe. Gleich hatte ich es geschafft und würde den Baum auf den Balkon schaffen, damit wir ihn morgen gleich früh schmücken konnten. Man freute ich mich schon auf meine warme Badewanne. Vielleicht badete ich gleich zusammen mit Espie und wir veranstalteten eine kleine Schaumschlacht. Ja, das würde ihr mit Sicherheit Spaß machen. „Mama, sau!" Espie drängte sich an mir vorbei und zeigte mit ihrem Finger zu unserer Tür. „Dada!" Sie rannte los. „Espi, bleib stehen!" Ich stampfte mit meinem Fuß auf. Meine Tochter rannte aber einfach weiter. Mein Herz begann vor Panik zu rasen.

Schuss und Treffer - zum Comeback    ✔️    Teil 12Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt