Kapitel 22

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„Sibbeln!" Espie stand neben mir auf ihrem Küchenhocker und schaute erwartungsvoll zu der Packung Champignons, die dort auf der Arbeitsplatte stand. „Ja, mein Sonnenschein, die Champignons müssen noch geschnibbelt werden." Lucas Anruf bei seinem Freund Linus war erfolgreich gewesen. Erstaunlicherweise hatte er für Silvester noch nichts vorgehabt und würde in etwa einer Stunde hier zusammen mit seiner Freundin und deren kleiner Schwester aufschlagen. Manchmal musste man halt auch Glück haben......oder anders gesagt, auch das Universum hatte wohl eingesehen, dass Luca dringend eine Abwechslung und gleichzeitig ein Dankeschön verdient hatte. Ich hörte die Wohnungstür klappen und keine Minute später tauchte Luca mit Tüten bepackt in der Küche auf. „So, jetzt haben wir aber mehr als genug, um ein ganzes Bolivianisches Dorf zu versorgen." Ich verzog mein Gesicht. Okay, vielleicht hatte ich bei meinem spontanen Einkaufszettel etwas übertrieben, aber ich wollte ja auch, dass sich Lucas Gäste wohl fühlten und nicht, dass sie dachten sie müssten die Tischdecke anknabbern, weil wir so knauserig waren. Außerdem fand ich beim Raclette ja immer das Schöne, dass man das Geschnibbelte, das übrig blieb am nächsten Tag super zu einem leckeren Auflauf verarbeiten konnte. Also bestand gar keine Gefahr von Lebensmittelverschwendung und man hatte sogar Zeit etwas länger an Neujahr zu schlafen, weil das Mittagessen ja schon vorbereitet war und nur noch in den Ofen geschoben werden musste. Jetzt kam aber erst einmal die heutige Vorbereitung....
„Kennst du deinen Freund Linus hier noch von der Schule oder erst von der Uni?" Ich wollte mich ja schließlich schon ein bisschen auf unsere Gäste einschießen, während ich zusammen mit Espie die Champignons schnitt und Luca sich an der Paprika zu schaffen machte. „Ich habe ihn auf meiner Fahrt nach Barcelona kennengelernt, als ich ihn per Anhalter mitgenommen habe." Erstaunt schaute ich Luca an. „Dann kennt ihr euch ja noch gar nicht so lange." Er schüttelte den Kopf. „Manchmal muss man sich nicht lange kennen, um festzustellen, dass es einfach passt." Er fuhr sich mit seiner Hand kurz durch den Nacken. „Weißt du, meine eigentlichen Spezis leben ja alle in München, weil ich dort ja früher aufgewachsen bin. Und dann sind wir ja hier in den Pott gezogen. Da habe ich gleich Maja kennengelernt und irgendwie hat sich dann bei mir ja nur alles um die Familie Reus abgespielt......aber das waren keine echten Freundschaften......irgendwie gehörte ich halt nur dazu, weil ich Majas Freund war." Ich schüttelte den Kopf. „Das kann ich mir bei Max gar nicht vorstellen." Ich kannte ihn ja ziemlich gut, weil er bis vor kurzem noch in der Wohnung über uns gewohnt hatte. Luca winkte ab. „Okay, Max ist okay. Aber sagen wir mal so, unsere Interessensschnittmenge ist ziemlich überschaubar. Er hat seine Medizin und ich......" „Und du?", hakte ich nach. Luca zuckte mit den Schultern. „Also bis vor einem Jahr die Wirtschaft." Wieder machte er eine Pause. Dieses Mal ließ ich sie ihn aber machen und wartete ab.  „Na ja, wie auch immer. Jedenfalls hatte ich hier nie wirklich Freunde, besonders nachdem das mit Maja und mir auseinander gegangen ist", fuhr er dann doch fort. „Und dann habe ich Linus kennengelernt. Er ist dann auch bei mir in Barcelona mit in die Wohnung eingezogen und wir haben eine WG gegründet. Er ist einfach ein echt cooler Typ, der das Leben nicht zu ernst nimmt und trotzdem genug reißt." Das hörte sich interessant an. „Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen", grinste Luca. „Manchmal hast du nämlich auch so Anwandelungen wie er." „Wie soll ich das verstehen?" „Na ja, sagen wir mal so, du nimmst das Leben auch nicht nur bierernst und wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, ziehst du es auch durch, ohne dich dabei selbst aufzugeben." Ich verzog mein Gesicht. „So siehst du mich?" Luca nickte. „Ja klar. Du hast Prioritäten, lässt dich aber nicht von allem auffressen. Das nennt man dann wohl auch gelungene Work-Life-Balance." Mmh, so hatte ich das noch nie gesehen. Ich sah mich eigentlich eher als die, die irgendwie immer versuchte einfach den Kopf über Wasser zu halten. „Und du hast diese Balance nicht?" Wieder zuckte Luca mit den Schultern. „Ich hatte sie in Barcelona damals jedenfalls überhaupt nicht. Und hätte es nicht Linus gegeben, der mich da immer ausgebremst hätte, wäre ich wahrscheinlich noch viel früher zusammengebrochen." Okay, am Rande hatte ich von seinen gesundheitlichen Problemen durch seine Schwester Lucy, meinen rettenden Engel, mitbekommen..... trotzdem hatte ich immer gedacht, dass da eher seine Exfreundin der Turnaround war. Das war ja interessant. Dann war es ja umso besser, dass genau dieser Linus heute hier auftauchen würde. Vielleicht schaffte er es ja auch wieder Luca ein wenig aus diesem kleinen Loch zu ziehen, in dem er sich scheinbar gerade befand. Obwohl ich war mir nicht ganz sicher, ob es wirklich ein Loch war oder ob er einfach nur gerade ein wenig die Richtung verloren hatte. So etwas passierte ja manchmal, wenn einem etwas Wichtiges wegbrach......und wenn ich an seine Erzählungen von dem Kinderdorf und Costa Rica dachte, dann hatte er da schon etwas für ihn Bedeutendes aufgegeben. Wobei mir ja das Warum immer noch zum Verstehen fehlte. Vielleicht war aber auch da dieser Linus die Lösung. Ich hoffte es, denn ehrlich gesagt würde ich Luca gerne wieder richtig auf die Füße helfen. Mir würde schon etwas einfallen wie ich den beiden Jungs eine kurze gemeinsame Auszeit schaffte. Ich würde die ominöse Freundin einfach mit Beschlag belegen, damit die beiden Kerle Zeit hatten etwas zu quatschen. Ja, das war doch ein Ansatz und dann mal schauen...... Die Türklingel riss mich aus meinen Gedanken. „Such!" Espie ließ ihr kleines Messer fallen, mit dem sie immer noch an den Champignons herumgesäbelt hatte und sprang von ihrem Hocker. „Ja, das ist der Besuch", stimmte ich ihr zu. „Na, dann werde ich mal aufmachen gehen." Luca legte sein Messer auch beiseite und machte sich auf den Weg in den Flur. Neugierig folgte ich ihm auch. Kurze Zeit später stand ein breit grinsender Kerl mit verwuschelten blonden Haaren und strahlend blauen Augen vor mir und reichte mir seine Hand. „Hey. Ich bin Linus." Ja, der war mir wirklich auf Anhieb mit seiner absolut positiven Ausstrahlung total sympathisch. Hinter ihm tauchte eine eher ernst dreinblickende Blondine mit einem strengen Bobschnitt auf und reichte mir eher unterkühlt die Hand. „Das ist Ina, meine Freundin", stellte Linus sie grinsend vor. Mein Blick wanderte zu Luca. Irgendwie passte es überhaupt nicht in mein Bild, dass dieses in einem Businessanzug steckende Mädel mal seine Freundin war. Das musste ein echter Irrtum gewesen sein, wenn ich an Maja oder seine Ex Leonie dachte. Bei diesem Mädel bekam man ja fast Frostbeulen von der Kälte, die sie ausstrahlte. Ich schüttelte mich innerlich....

Schuss und Treffer - zum Comeback    ✔️    Teil 12Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt