Kapitel 107

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Es gab kein Testament und deshalb bist du von Gesetzes wegen ihr Alleinerbe als ihr einziges Kind. Dieser Satz echote in meinem Kopf noch Stunden später. Ja, objektiv gesehen, war ich das einzige Kind von meiner Mutter. Aber sie hatte sich von mir losgesagt. Schon vor langer Zeit hatte sie mich aus ihrem Leben entfernt und nichts mehr mit mir zutun haben wollen. Und jetzt sollte ich auf einmal ihr Erbe sein? Das passte doch nicht. Irgendetwas stimmte da gewaltig nicht. Meine Mutter hätte garantiert alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit ich nicht einmal das Schwarze unter ihren Fingernägeln bekam. „Was grübelst du denn so?" Luca musterte mich. „Ich soll angeblich alles von meiner Mutter erben. Das kann gar nicht sein. Da muss ein Haken dran sein. Wahrscheinlich ist alles so überschuldet und sie will mir damit noch nachträglich eins auswischen." Anders konnte es auf keinen Fall sein. Genau, bestimmt war ihre Firma irgendwie in Schieflage gekommen und sie hatte jede Menge Verbindlichkeiten. Ja, das wäre eine Erklärung. So könnte sie mich auch noch einmal ordentlich bestrafen, damit ich garantiert nie wieder auf die Beine kam. „Glaubst du das wirklich?" Ich nickte. „Aber meinst du nicht, dass deine Mutter dann sogar explizit ein Testament verfasst hätte? Also so wie du sie immer beschrieben hast, hätte sie doch nichts dem Zufall überlassen." Das stimmte schon, aber...... „Musste sie ja nicht, wegen der gesetzlichen Erbfolge, konnte sie sich das Geld und den Aufwand dafür sparen. Da gibt es ja keinen Zufall, sondern alles ist vom Gesetz geregelt."  Luca schüttelte seinen Kopf. „Vielleicht dachte sie aber auch sie ist unsterblich und hat es deshalb nicht für nötig gehalten." Okay, das hätte zu ihr gepasst. Aber andererseits..... „Sie hat nie etwas dem Zufall überlassen." „Vielleicht wollte sie ja dann auch, dass du alles erbst, wenn ihr mal etwas zustoßen sollte. Vielleicht hat sie dich ja doch irgendwie immer noch als ihre Tochter gesehen und geliebt." Ja, genau. Und im Himmel war Jahrmarkt. „Meine Mutter hat immer nur sich gesehen und niemand sonst. Irgendwo in einem Lexikon wird bestimmt ihr Bild als Erklärung für das Wort Egoist und Egomane abgedruckt sein." Okay, das hörte sich ziemlich gemein und respektlos an, aber da sie mich nie mit Respekt behandelt hatte, war ich ihr das auch nicht schuldig. „Dann war es ihr vielleicht schlicht und ergreifend egal, was mit allem passierte, wenn sie nicht mehr da ist." Mhm, das könnte schon zutreffen. Vielleicht hatte sie ja auch erwartet, dass die Welt dann aufhörte sich zu drehen und sowieso alles zusammenbrach. Ja, der Gedanke hätte zu ihr gepasst. „Ich will den ganzen Scheiß aber nicht haben." „Du hörst dich gerade wie ein trotziges Kleinkind an." Da Luca mir sanft über den Rücken strich, nahm ich ihm diesen Ausspruch nicht einmal übel. Irgendwie hatte er ja auch recht. „Was hat dein Vater denn überhaupt gesagt? Und was ist da in den Kisten?" Ich schaute zu den Umzugskartons, die mein Vater uns mitgegeben hatte und die jetzt  in unserem Wohnzimmer standen. „Papa hat in den Kartons wohl die ganzen persönlichen Sachen aufgehoben, die man ihm hat zukommen lassen. Lauter Papierkram halt." Ja, er hatte sie all die Jahre in seinem Keller für mich aufbewahrt.  „Außerdem hat er mir noch eine Visitenkarte in die Hand gedrückt." „Was für eine Visitenkarte?" Luca schaute mich neugierig an.  „Von einem Nachlassverwalter." Papa hatte gesagt, dass ihn das Ganze überfordert hätte, schließlich war er Mathe Professor und nicht Unternehmer. Deshalb hatte er einen Nachlassverwalter beauftragt, der sich um Mamas Nachlass kümmerte bis man mich gefunden hätte. „Bei dem solltest du dich aber auf alle Fälle melden." Ich verzog mein Gesicht. „Ich will aber nichts von dem Drachen haben." Luca begann zu schmunzeln. „Manchmal bist du genauso stur wie deine Tochter, wenn sie Spinat essen soll. Erstens heißt es ja nicht, dass du das Erbe annehmen musst, wenn du dich bei dem Nachlassverwalter meldest und zweitens, vielleicht solltest du es wenn als Entschädigung für alles, was sie dir angetan hat, sehen." Stimmt, ich könnte es ja auch immer noch ausschlagen. Aber dann.... „Wenn ich es ausschlage, dann erbt Espie es und.....und Carmen!" Vielleicht hatte ja der Nachlassverwalter die Möglichkeit meine Tochter zu finden. Ja klar, er musste ja Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um den Erben zu informieren. Das war ja..... ein ziemlich blöder Gedanke, denn scheinbar war der Typ ja nicht der Fähigste. Sonst hätte er mich ja auch schon gefunden. Ohne Luca hätte ich aber immer noch keine Verbindung zu meiner Familie. Okay, den Gedanken konnte ich wohl abhaken. Mein Blick fiel zu den Umzugskartons. Vielleicht......Ich sprang auf und lief zu dem mir nächsten Karton und öffnete ihn. Jede Menge Ordner. Na super. Ich zog den ersten heraus. Auf dem Ordnerrücken stand Persönliches geschrieben. Ich strich mit meinem Finger über die Schrift. Bei meiner Mutter hatte jeder Buchstabe immer wie gedruckt ausgesehen, wenn sie etwas geschrieben hatte. Wie oft musste ich damals in einem extra Heft Schreibübungen machen, weil ihr meine Schrift zu liederlich und unlesbar erschien. Ich hatte das immer gehasst. Wahrscheinlich erklärte das auch heute noch, warum man meine Schrift kaum lesen konnte. Das war wohl mein persönlicher Widerstand gewesen.  Ich öffnete den Ordner und begann zu blättern. Das waren nur irgendwelche Belege von irgendwelchen Konten. Luca hatte sich neben mich gehockt und schaute mir über die Schulter. „Wow, das sind ja ganz schöne Summen, mit denen deine Mutter da jongliert hat." Ich zuckte mit den Schultern. Das interessierte mich gerade überhaupt nicht. Ich griff mir den nächsten Ordner, der auch mit Persönliches beschriftet war. Wieder nur irgendwelche nach Geschäft aussehenden Dokumente. Unglaublich, was diese Frau als persönlich ansah. Und noch unglaublicher, wie viele Ordner damit scheinbar beschriftet waren, denn ich zog auch noch weiter Ordner mit dieser Aufschrift aus dem Karton und legte sie neben mich. Egal, wie lange es dauern würde, mich da durch zu wühlen. Ich suchte nur etwas ganz Bestimmtes. In einem dieser Ordner musste es doch eine Spur zu meiner kleinen Carmen geben. Ich fühlte das. So dicht war ich noch nie dran, sie zu finden.

Schuss und Treffer - zum Comeback    ✔️    Teil 12Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt