Seit dem Treffen beim Nachlassverwalter waren zwar gerade einmal 24 Stunden vergangen, aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor. In meinem Kopf rotierten zwar nicht die ganzen Zahlen, aber meine Gedanken hatten sich doch an den Sätzen meiner Lieblingsmänner festgefressen. Ja, Geld alleine machte nicht unglücklich, aber oftmals versaute es dann doch den Charakter. Und da hatte ich Angst vor, auch wenn mein Vater da keinerlei Bedenken bei mir hatte. Er schien mir da mehr zu vertrauen, als ich mir selbst. Das Klingeln unserer Türglocke riss mich aus meinen Gedanken. Wer sollte das sein? Ich erwartete doch gar keinen Besuch. Hatte Luca vielleicht seine Schlüssel vergessen? Er hatte ja Espie in die Kita gebracht. Aber eigentlich wollte er von dort aus doch gleich nach Bochum zu seinem Vater. Vielleicht war es ja auch der Paketbote, der für jemand im Haus etwas abgeben wollte. Ich drückte den Türöffner und öffnete auch gleich die Wohnungstür. Aus dem Treppenhaus hörte ich bereits Schritte. „Puh, musstest du unbedingt in die zweite Etage ziehen?" „Alex!" Überrascht schaute ich zu meiner Stiefmutter, die schnaufend vor mir stand. „Was....was machst du denn hier?" „Erstens dachte ich, ich bringe euch mal einen Kuchen vorbei." Sie deutete auf die Plastikhaube in ihrer Hand „Und zweitens dachte ich mir, dein Vater weiß schon wo und wie du lebst. Da wäre es an der Zeit, dass ich mit ihm gleichziehe. Oder störe ich gerade?" Ich schüttelte den Kopf. Zwar hatte ich noch eine Übersetzung auf meinem Schreibtisch liegen, die noch in dieser Woche fertig werden musste, bevor ich mit Luca und seiner Familie nach Ibiza flog, aber wenn ich ganz ehrlich war, saß ich davor und konnte mich gerade sowieso nicht darauf konzentrieren. Vielleicht würde mir ein bisschen Ablenkung und ein Stück selbstgebackener Kuchen da ganz guttun. „Magst du einen Kaffee und ein Stück Kuchen?", wandte ich mich an Alex, die breit zu grinsen anfing „Ich dachte schon, du fragst nie. Kaffee wäre gerade der absolute Traum." „Na dann ab in die Küche. Den Rest der Wohnung zeige ich dir später."
„Das ist hier echt gemütlich die kleine Essecke." Alex griff nach ihrer Kaffeetasse und nahm einen Schluck, ehe sie mich über den Rand der Tasse musterte. „Du siehst irgendwie grüblerisch aus." Ich zuckte mit den Schultern. Sie kannte mich zu gut, als dass ich ihr etwas vormachen konnte.....„Na, worüber denkst du schon wieder nach?" Frau Kowalski musterte mich aufmerksam. „Über gar nichts", schwindelte ich schnell. Ich konnte ihr doch nicht sagen, dass ich an meine kleine Carmen dachte. Heute war ihr zweiter Geburtstag und ich vermisste sie immer noch wie am ersten Tag. In meinem Zimmer hatte ich sogar ein kleines Geschenk für sie. Ich war letzte Woche mit Paula shoppen und hatte dieses süße kleine Spielzeughandy entdeckt, dass Tiergeräusche machte, wenn man die Zahlentasten drückte. In meiner Phantasie hatte ich mir vorgestellt, wie mein kleiner süßer Engel damit spielte und wir beide so taten als rufe sie mich an. Ich sah meine Kleine genau vor mir. Bestimmt hatte sie genau wie ich blonde Haare. Ich würde ihr kleine Rattenschwänze zaubern und sie würde total süß aussehen. „Ach Süße, denkst du wirklich, dass ich dir das glaube? Glaubst du, dass ich nicht weiß, welcher Tag heute ist?" Sie schaute mich mitleidig an und legte ihren Arm um meine Schulter. „Meine kleine Carmen hat heute Geburtstag", schniefte ich los. „Und ich weiß nicht, wie es ihr geht oder wo sie ist." Liebevoll strich mir Frau Kowalski über den Rücken. „Das macht dir schwer zu schaffen. Das verstehe ich." Ich kuschelte mich an sie und ließ meinen Tränen, die sich aufgestaut hatten, freien Lauf. Endlich mal jemand außer Paula, der verstehen konnte, dass ich meine kleine Tochter vermisste.....
Frau Kowalski war damals die einzige, die mir immer zuhörte und Verständnis für mich hatte. Sie hatte mir immer die Zuneigung gegeben, die ich von meiner Mutter nicht bekam und versucht mir mit meinen Problemen zu helfen. Vielleicht sollte ich mit ihr einmal über mein Problem mit dem Erbe sprechen. Sie kannte die ganzen Umstände und verstand meine Entscheidung bestimmt am besten. „Ich kann dieses Erbe doch nicht einfach annehmen", platzte es aus mir heraus. Alex schmunzelte leicht. „Wusste ich doch, dass dich da der Schuh drückt. Als dein Vater mir gestern von eurem Treffen bei dem Nachlassverwalter und deiner Reaktion erzählt hat, habe ich mir schon fast gedacht, dass dir eine Menge durch den Kopf geht. Einerseits willst du ganz konsequent sein, aber andererseits haben dir die beiden Männer auch genug Stoff zum Nachdenken gegeben. Und jetzt bist du hin und her gerissen und weißt gar nicht mehr, was du machen sollst. Stimmt's?" Ich nickte nur. „Klar, könnte ich mit dem Geld meiner Tochter viel ermöglichen. Ich könnte sogar aufhören zu arbeiten und nur für sie da sein, aber....." Ich brach ab. „Aber du hättest dann das Gefühl dich zu verkaufen, weil du denkst, du würdest damit nachträglich vor deiner Mutter einknicken." Ich musste schlucken. Ja, genauso fühlte sich das an, auch wenn ich nicht gewusst hätte, wie ich es ausdrücken sollte. „Sie hat mir so viel Mist angetan. Und wenn ich das Geld annehme, dann......" „Dann gibst du ihr die Chance diesen Mist wieder gut zu machen." Okay, das klang so ähnlich wie bei Luca, der auch meinte, dass ich es einfach als Entschädigung sehen sollte. „Aber ich will ihr nicht vergeben. Eigentlich würde ich ihr viel lieber einmal meinen ganzen Frust ins Gesicht schreien." Alex zuckte mit den Schultern. „Und warum tust du es dann nicht?" „Weil sie tot ist. Sie hat sich ja einfach aus dem Staub gemacht." Alex stellte ihre Tasse ab und rückte ihren Stuhl zurück. „Los komm!", forderte sie mich auf. „Wo willst du denn hin?" Wir hatten ja noch nicht einmal den Kaffe ausgetrunken. „Wir werden jetzt das machen, was schon seit langer Zeit fällig ist, damit du endlich mit dem Thema abschließen und nach vorne schauen kannst. Und du wirst sehen, danach fällt es dir auch leichter, dich wegen des Erbes zu entscheiden." Ich stand auf und folgte Alex, auch wenn ich keinen Plan hatte, was sie jetzt mit mir vorhatte. Ich musste ihr einfach vertrauen. Sie hatte mich schließlich noch nie enttäuscht.
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Schuss und Treffer - zum Comeback ✔️ Teil 12
RomanceGenia hat in ihrem Leben schon viele Höhen, aber noch viel mehr Tiefen gesehen. Und wer in seinem Leben schon auf dem Tiefpunkt war, der will nur noch in eine Richtung - nach oben - aber nicht mehr um jeden Preis, denn da gibt es auch noch ein klein...