Kapitel 59

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„Du schaust gerade als würdest du jemand einen Kopf kürzer machen wollen." Tessa hatte sich neben mich gesetzt. „Wer ist es und kann ich mitmachen?" Ich musste lachen. Sie war wirklich das Klischee des temperamentvollen Rotschopfs. Ich schüttelte den Kopf. „Ich war nur in Gedanken. Sag mal ist Leokardia heute gar nicht hier?" Ich hatte meine Freundin und ehemalige Nachbarin nämlich noch überhaupt nicht entdeckt. „Nee, die sind mit den Kindern in der Schweiz bei ihren Großeltern Ostern feiern. Die sind doch nicht mehr so fit, um hier herzukommen." Hinter uns ertönte leises Babygeschrei und wir drehten uns um. „Boah, wenn ich beim Erbsenzähler auf dem Arm wäre, würde ich auch schreien." Sie sprang auf und rannte zu Luca, der in ein paar Metern Entfernung mit einem Baby im Arm stand. Neben ihm stand sein Vater und hielt auch einen kleinen Schreihals. Meine Augen klebten aber an Luca, der das Baby sanft in seinen Armen hin und her wog. Bei dem Anblick wurde mir ganz warm ums Herz. „Eh, gib mir mal den kleinen Stinker." Tessa wollte ihm das Baby abnehmen. Luca schüttelte entschieden den Kopf und deutete auf seinen Vater, der das schreiende Baby in seinen Armen hielt. „Nimm ihm lieber die Maus ab, Dumpfbirne." „Was machst du denn mit Arianna!" Marco war auch mit einem Baby angestürzt gekommen und schaute seinen Kumpel Leon vorwurfsvoll an. Dann waren das wohl die jüngsten Reus Drillinge, Matteo, Fabio und Arianna. Neugierig stand ich auf und lief auch zu den Babys. „Magst du nehmen?" Luca streckte mir den kleinen Wonneproppen entgegen. Sofort stieg mir dieser einzigartige Duft in die Nase, den nur Babys verströmten und eine unglaubliche Wärme erfüllte mich. Ja, diesen Duft hatte ich auch bei meiner kleinen Espie unglaublich geliebt. „Na, schwelgst du in Erinnerungen?" Andreas war neben uns getreten und grinste breit in meine Richtung. „Paolo ist auch schon viel zu groß, wenn du mich fragst. Aber Luz sperrt sich noch gegen weiteren Nachwuchs. Sie will erst einmal ihr Studium durchziehen." Ich musste schmunzeln, den Kosenamen fand ich einfach zu süß. Ja, Lucy war sein Licht. Ich fand es eine ziemlich kluge Entscheidung von ihr erst einmal ihr Studium beenden zu wollen, denn man konnte ja nie wissen, was irgendwann kam. Auch wenn die beiden für mich der Inbegriff eines Traumpaares waren, konnte keiner in die Zukunft schauen und es war mit Sicherheit gut, wenn Lucy jederzeit auf eigenen Füßen stehen konnte. „Sie vergisst völlig, dass sie einen alten Mann geheiratet hat", stöhnte Andreas leidend. „Wie viel Altersunterschied war das bei euch?" Um ehrlich zu sein, wusste ich es nicht ganz genau. „Zwölf Jahre und dreihundertvierundvierzig Tage", kam es wie aus der Pistole geschossen. Ok, so genau hätte ich es nun auch wieder nicht wissen müssen. „Das ist doch kein großer Altersunterschied. Das passt schon. Und ein Mann kann ja auch noch bis ins hohe Alter Kinder zeugen. Also stöhn hier nicht so rum." Lisa hatte sich auch zu uns gesellt und klopfte ihrem Schwiegersohn auf die Schulter.  „Schnuggerl, da hast du recht, aber trotzdem wäre es langsam Zeit für noch ein Enkelkind." Leon schien genauso wenig Probleme mit dem Altersunterschied zu haben wie Lisa. Das ließ mich erleichtert aufatmen. Denn bei Luca und mir waren es fast fünfzehn Jahre. Das waren nur knapp  zwei Jahre mehr. Und wenn sie bei den beiden keine Probleme hatten, dann.....vielleicht in nicht all zu ferner Zeit. ... „Na, suchst du Verbündete?" Lucy drückte ihrem Mann einen Kuss auf die Wange. So glücklich wie Andreas Augen strahlten, hatten sie damals bei mir nie gestrahlt. Nein, ich hatte mir da etwas eingeredet, weil es gut gepasst hatte und weil......weil ich eine tiefe Sehnsucht nach einer tiefgreifenden Veränderung in meinem Leben gespürt hatte. Ich hatte gewusst, dass es so nicht mehr lange mit mir weiterging und dann hatte ich Andreas getroffen. Mein Traum von einem normalen Familienleben war zum Greifen nah.....

Mir stand das Wasser bis zum Hals. Mein Vermieter hatte mir meine Wohnung fristlos gekündigt. Okay, das kam bei den Mietrückständen nicht wirklich unerwartet. Mit meinen zwei Koffern, in die mein komplettes Hab und Gut passte, in der Hand stand ich vor Andreas seiner Wohnungstür. Glücklicherweise hatte er mir sofort angeboten bei ihm einzuziehen als ich von dem Wasserrohrbruch erzählt hatte, der meine Wohnung unbewohnbar machte. Ich konnte nur dankbar sein, dass er so naiv war und meine Lüge ohne weiteres glaubte, sonst hätte ich echt auf der Straße gesessen. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Jetzt konnte mein neues Leben beginnen. Hier würde ich meine kleine Familie haben, so wie ich sie mir immer erträumt hatte, meine kleine Carmen, mein Mann und ich. Alles würde ein einziger Traum.....
„Nein, ich will das blöde Kleid nicht anziehen!" Carmen stampfte mit ihrem Fuß auf und warf mir das schöne Tüllkleid, dass ich ihr gekauft hatte entgegen. Schnell hob ich es von der Erde auf und strich es wieder glatt. Wusste dieser kleine Teufelsbraten eigentlich, wie viel ich dafür ausgegeben hatte? Ich hatte dafür sogar wieder einen dieser verhassten Hostessenjobs annehmen müssen, und zwar heimlich, damit Andreas davon nichts mitbekam....und dann reagierte dieses Mädchen so undankbar. „Wir gehen heute auf eine Party und da willst du doch wohl nicht verlottert aussehen." Vielleicht half ja eine vernünftige Erklärung. Auf keinen Fall würde ich zulassen, dass sie da heute wie ein verwahrloster Strolch hinging. „Ich will Hosen anziehen. Lucy wüsste das." Die Kleine hatte sich vor mir aufgebaut und ihre Arme vor der Brust verschränkt. Lucy, wie ich diesen Namen hasste. Lucy hier, Lucy da. Die Kleine war völlig fixiert auf ihre Babysitterin. Kein Wunder, dass sie kein Benehmen hatte, wenn  ein Teenager ihr Vorbild war. Das musste sich ganz schnell ändern. Wenn es so nicht funktionierte, dann eben mit Härte. „Du ziehst jetzt das Kleid an, sonst sage ich deinem Vater was für ein ungehorsames Kind du bist und er wird dich in ein Heim stecken." Erschrocken zuckte sie zusammen und griff nach dem Kleid, das ich wieder auf ihr Bett gelegt hatte. Ich musste in mich hinein grinsen als ich ihr Zimmer verließ. Meine Carmen wäre garantiert ganz anders gewesen. Sie hätte sich mit Sicherheit über dieses Kleid gefreut und es mit Stolz getragen. Ja, meine kleine süße Carmen. Ich musste schlucken, weil sich wieder einmal dieser unglaubliche Schmerz der Sehnsucht in mir ausbreitete. Dieser kleine Mistbesen da im Zimmer war nicht meine Carmen. Sie teilten sich zwar den Namen, aber das war es auch schon. Ich stürzte ins Schlafzimmer und begann in dem Schubfach mit meiner Unterwäsche zu kramen. Ich brauchte jetzt dringend eine Pille.....

Schuss und Treffer - zum Comeback    ✔️    Teil 12Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt