Es dauerte nicht lange, bis ich gefunden hatte, wonach ich suchte. Es war ein gewaltiges Gebäude, mehr ein Anwesen als ein Haus, und es war eindeutig bewohnt. Außerdem konnte ich eine Stimme im Inneren hören, die ich eindeutig Niklaus zuordnen konnte. Ich hatte seine Stimme seit mehr als einem Jahrtausend nicht mehr gehört, aber ich musste nicht lange überlegen, um sie zu erkennen. Er klang noch genauso wie damals. Ein wenig wütender und angespannter vielleicht, aber mehr hatte sich nicht geändert. Ich konnte nur hoffen, dass das bei seinem Charakter auch der Fall war.
Einige Minuten stand ich reglos vor dem Anwesen, ohne zu wissen, was ich tun sollte. So oft hatte ich mir diesen Moment schon ausgemalt, und doch war ich jetzt furchtbar nervös. Was würde ich tun, wenn er mich gar nicht erkennen würde? Oder wenn er mich gar nicht sehen wollte? Aber ich hatte schon lange genug auf diesen Moment gewartet, ich wollte nicht weiter zögern. Entschlossen hob ich meine Hand, um anzuklopfen. Oder sollte ich doch lieber einfach gleich reingehen?
Die Entscheidung wurde mir abgenommen, als die Haustür aufgerissen wurde und ich nur einen Augenblick später gegen einen Baum gedrückt wurde. "Ich gebe dir jetzt genau drei Sekunden, um mir zu sagen, wer du bist und was du hier tust, bevor ich dich umbringe", knurrte eine Stimme gefährlich. Niklaus' Stimme.
Ich öffnete meinen Mund, brachte aber nur ein Krächzen heraus. Seine Hand drückte meine Kehle zu fest zu, als dass ich auch nur ein einziges Wort herausbringen könnte. Demonstrativ deutete ich auf meinen Hals und versuchte, ruhig zu bleiben, aber Niklaus fing langsam an, von drei herunterzuzählen. Da wurde es mir zu viel und ich nahm meine ganze Kraft zusammen, um ihn von mir zu stoßen.
Unglücklich rieb ich meinen schmerzenden Hals, während Niklaus mich überrascht musterte. "Wie hast du das gemacht?" Er war es wohl nicht mehr gewohnt, dass jemand stärker war als er. Zugegeben, das war ich auch nicht, aber solange ich meinen Überraschungsmoment nutzen konnte, konnte ich es durchaus mit ihm aufnehmen. Immerhin waren wir beide Hybriden und er war nur ein paar Tage vor mir verwandelt worden.
"Sag bloß, du erkennst mich nicht mehr", antwortete ich gespielt beleidigt, um zu verbergen, dass mich das tatsächlich ein wenig verletzte.
Wie erwartet hielt mein Halbbruder inne, um mich genauer zu betrachten. "Dein Gesicht kommt mir bekannt vor. Aber ich habe schon so viele hübsche Frauen gesehen, dass ich mich unmöglich an alle erinnern kann."
Grinsend sah er mich an und ich verdrehte leicht die Augen. Flirtete er gerade mit mir? Igitt. "Du kannst dir deinen Charme sparen, Niklaus. Du bist der letzte Mensch, von dem ich sowas hören will. Versuch doch wenigstens, dich zu erinnern. Ich erkenne dich doch auch. Es ist schließlich nicht so, als könnte man sich als Hybrid stark verändern."
"Niklaus? Woher kennst du diesen Namen? Ich bevorzuge es schon seit langem, Klaus genannt zu werden."
Genervt seufzte ich auf. Ehrlich? Das war sein wichtigstes Problem? "Denk mal scharf nach. Du fängst langsam wirklich an, mich zu beleidigen. So unscheinbar war ich nun auch wieder nicht."
Einige Sekunden musterte er mich weiter verwirrt, bis seine Augen sich leicht weiteten. "Nein, das ist unmöglich. Ich habe deine Leiche gesehen, neben deinem Vater. Du warst tot", flüsterte er ungläubig.
"Unserem Vater", korrigierte ich ihn leise. "Und das war ich auch. Mikael hat mich umgebracht, aber ich hatte zu dem Zeitpunkt dein Blut in meinem Körper. Keiner wusste damals, dass so etwas überhaupt möglich war, aber du hast mich verwandelt."
"Nein. Nein, das ist unmöglich. Ich würde mich daran erinnern, wenn ich dir mein Blut gegeben hätte. Welchen Grund hätte ich dazu gehabt?"
"Du hast es auch nicht freiwillig getan", gab ich leise zu. "In der Nacht war Vollmond. Deine erste Verwandlung in einen Wolf. Ich kann mich selbst nicht mehr wirklich daran erinnern, aber wir müssen in Wolfsform gekämpft haben und da habe ich dich gebissen. Es ist wahr, Niklaus, ich bin am Leben."
"Hör auf, mich so zu nennen!", schrie er plötzlich aufgebracht und ich wich unwillkürlich etwas vor ihm zurück. "Du bist nicht echt, nur irgendeine Halluzination von den Hexen. Lass mich in Ruhe!"
Tief atmete ich durch und ging dann einige Schritte auf meinen Bruder zu. "Ich verstehe, dass das schwer zu akzeptieren ist. Aber ich lebe. Ich habe das letzte Jahrtausend versucht, dich und deine Geschwister zu finden und jetzt bin ich hier. Ich will für euch da sein, ich will bei euch sein. Und ich will dir helfen. Natürlich könnte es sein, dass ich gar nicht real bin und die Hexen nur ein Spiel mit dir spielen. Aber frage dich doch mal: Was ist, wenn ich tatsächlich hier bin?"
Plötzlich wurde Niklaus ganz ruhig und er grinste mich leicht an. Ich dachte schon, ich hätte ihn endlich überzeugt, bis er anfing zu reden. "Dann wärst du nicht das erste Geschwisterteil, das ich diese Woche umbringe."
Mit diesen Worten verschwand er mit Vampirgeschwindigkeit ins Anwesen, schlug die Tür hinter sich zu und ließ mich somit fassungslos zurück. Was hatte das denn zu bedeuten?
DU LIEST GERADE
Die Wölfin - The Originals FF
Fanfiction• Beendet • Eigentlich war ich ein ganz normales Kind in unserem Dorf. Jeden Monat bei Vollmond verwandelte ich mich in ein gefährliches Raubtier, einen Wolf, aber das war bei uns nichts Außergewöhnliches. Die Verwandlungen waren schmerzhaft, aber m...