21. Kapitel - Interview

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"Jetzt hört mir genau zu. Auf Augenhöhe von Euch befinden sich Ringe, die Ihr so gut festhalten müsst, wie Ihr könnt. Ihr werdet eine Zeit lang keinen Boden mehr unter den Füßen haben, also geratet nicht in Panik, wenn es so weit ist. Auf mein Kommando hin müsst Ihr loslassen, Ihr landet dann auf gut gepolsterten Matten." Ob das stimmt, was ich natürlich nicht, aber um ihn zu überzeugen ist mir keine Notlüge zu schade.

"Wie tief ist es?", fragt er das erste Mal zurück. Ich beiße mir auf die Unterlippe und überlege, vor welcher Höhe ich an seiner Stelle am wenigsten Angst hätte, ohne dass es unglaubwürdig klingen würde. "Etwa vier Meter.", schwindele ich dann. In Wahrheit ist es fast das doppelte.

"Ihr seid eine schlechte Lügnerin. Aber es ehrt mich, dass Ihr mich beschützen wollt. Also, Ihr sagt, wann ich springen muss?" "Ja."

Auf dem Bildschirm wird mir Kaden von vorne präsentiert, die Kamera wurde am Ende der Rampe aufgehangen. Kaden holt sichtlich Luft, dann sucht er nach den Ringen und ergreift sie. Als er sich vom Boden abstößt und die Beine hochzieht, bekomme ich Angst, was wäre, wenn er zu früh loslassen würde. Er könnte gegen ein Gerüstteil geschleudert werden und sich verletzen, und das nur, weil ich versagt hätte.

Die Sekunden fühlen sich länger an, als sie es sind, und als es so weit ist, rufe ich "Jetzt!" Fast sofort lässt Kaden los, rollt sich auf der grauen Matte ab und hält dann kurz inne. Ein Moment des Schocks vergeht, dann überkommt mich die Erleichterung. "Sehr gut, Kaden", rufe ich. Er richtet sich auf, diesmal kann er komplett aufrecht stehen. "Dabei habe ich fest damit gerechnet, dass Ihr mich loswerden wolltet. Das eben wäre die perfekte Gelegenheit gewesen.
", merkt er an.

Ob er auch wie ein normaler Mensch sein kann? Weniger sarkastisch und herablassend? "Zu spät. Aber ich werde sicher noch eine gute Gelegenheit finden, es Euch heimzuzahlen." Die nächsten Hindernisse werden nicht einfacher, aber zumindest haben sie nichts mit freiem Fall zu tun. Ich sehe Kaden gerade dabei zu, wie er eine Kletterwand bewältigt, als Kady ihre Kamera abrupt von ihm abwendet und auf einen Punkt hinter ihm richtet.

Aus Reflex folge ich ihrem Beispiel und erkenne durch die Streben, wie die Lady nach uns an der Rampe gescheitert ist. Sie wird von dem Netz noch einige male in die Höhe gefedert, dann holt man sie durch eine Öffnung nach draußen. Sie ist vor Schock wie gelähmt und kommt erst nach und nach wieder zu sich, dann beginnt sie hysterisch zu weinen.

"Nivea?", ertönt Kadens Stimme in meinem Ohr. Ich zucke zusammen und wende mich schnell wieder ihm zu, schiebe Kady aus dem Weg und hole die von ihm zurückgelegten Meter allein auf. Ohne den Monitor ist es schwieriger etwas zu erkennen, aber auch so mache ich den Schwebebalken aus, bei dem das Mädchen vorhin gefallen ist.

"Okay, halt! Vor dir steht ein Schwebebalken, du machst einen Schritt nach vorn und stehst schon direkt auf ihm. Er ist nicht sehr breit und es gibt nichts zum festhalten, also mach langsam!" Er tut einen Moment lang gar nichts, als wäre er paralysiert worden. Was ist denn jetzt los? Hat er doch Angst bekommen? Ich werde nervös. Dann, endlich, setzt er probehalber einen Fuß auf den Balken. Ich habe Turnen im Sportunterricht schon immer gehasst, und besonders dieses Ding.

Es kam mir dumm vor, auf einem Stück Holz hin und her zu spazieren, sich zu drehen oder ein Rad zu schlagen. Als gäbe es keine sinnvollere Sportart. Fußball zum Beispiel habe ich immer gerne gespielt. Das ganze jedoch mit verbunden Augen zu bewältigen, ist ungleich schwerer.

"Wie lang ist der Balken?", will Kaden wissen. Das 'Wie lang' ist nicht mal das schlimmste, wüsste er, dass er fünf Meter in Tiefe fällt, sollte er das Gleichgewicht verlieren.  Dann wäre er um einiges angespannter. Ich schlucke trocken und bemühe mich um einen gelassenen Ton. "Vielleicht zehn Meter? Das ist von hier aus schlecht einzuschätzen", lenke ich ab. "Warum? Ich dachte, Sie hätten einen Bildschirm, auf dem Sie allen verfolgen können?" Mit einem Seitenblick zu Kady stelle ich fest, dass eines der Räder sich in Kabeln verwickelt hat und besagter Bildschirm wohl nicht so bald voran kommen wird.

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