117. Mittwoch (Nivea)

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Nivea

Ich bin mit Henry auf dem Weg zum Speisesaal, zum Mittagessen, als er plötzlich meine Hand ergreift und mich in eine Ecke zieht.

Und mit Ecke meine ich genau das: Rechts neben und hinter mir befindet sich eine Wand, links dafür eine riesige Monstera Pflanze, deren Blattspitzen mit Blattgold verziert worden.

Ich reiße die Augen auf, weil ich einerseits erschrocken bin und mich zweitens an Benjamin erinnert fühle. Schritte in eine bestimmte Richtung sollte man nur gehen, wenn man selbst damit einverstanden ist.

Bevor ich überhaupt reagieren kann, küsst Henry mich. Er hält meine Hand noch immer, die mittlerweile schlapp ist, und mit der seinen berührt er meine Wange.

Obwohl er sehr zart ist und der Kuss keine drei Sekunden dauert, fühle ich mich, als hätte man mir einen Eimer Eiswasser über den Kopf geschüttet.

Ich erstarre, Zeitlupenmoment, in dem mein Sichtfeld unscharf wird.

Seine Lippen auf meinen – das ist etwas, womit ich nicht gerechnet habe. Aus irgendeinem Grund dachte ich, unsere Beziehung würde langsamer voran schreiten. Dass er nicht auf solche Gedanken kommen würde.

Wie naiv ich mit dieser Annahme war, wird mir jetzt bewusst.

Als Henry sich ein winziges Stück zurück zieht, um mich anzusehen, weicht sein Lächeln einem verunsicherten Ausdruck.

Derweil würde ich mir am liebsten über den Mund wischen, noch weiter nach hinten weichen oder zumindest den Mut finden, ihm zu sagen, dass das nicht okay war.

Stattdessen sehe ich ihn nur an, mit Augen, die sicher so groß wie die eines Mondfisches sind (ja, ich habe nachgeschaut welchen Fisch Prinz Damien meinte).

Und genau wie der Fisch würde ich mich gern in tiefere Gewässer verziehen. Oder klarer ausgedrückt: Im Boden versinken.

„Oh je, du hattest die Augen auf. Das ist kein gutes Zeichen.“

Ach ja? Ach ja? Ich presse die Lippen zusammen und drehe ein Stück den Kopf weg, richte meinen Blick auf ein Bild hinter Henry.

Es befindet sich an der Wand gegenüber und zeigt eine ältere Frau mit grauen Locken. Sie ist unwahrscheinlich mager und ihre Lippen sind abschätzig, fast schon angeekelt nach unten verzogen.

Diese Herabwürdigung gilt eigentlich dem angepiekten Stück Camembert an ihrer goldenen Gabel, aber im Moment könnte man meinen, sie hätte nur Augen für uns.

Ich schlucke und versuche meine aufwallenden Gefühle zu unterdrücken, die wild protestieren. Mein Herz schlägt wie verrückt, auch dieses rebelliert, und sollte sich mein Magen noch anschließen, sollte ich schnellstmöglich eine Toilette aufsuchen.

„Ähm“, mache ich. „Was…was war das?“

Aber eigentlich will ich sagen: Was, um alles in der Welt, ist in dich gefahren?

„Ein Kuss“, gibt er genauso einfallsreich zurück, wie ich. Er blinzelt nervös, fährt sich durch das braune Haar und wirkt plötzlich, als wäre ihm etwas Wichtiges klar geworden.

„Oh, das war doch nicht dein erster Kuss, oder? Ich dachte, du hättest bereits…Also wenn nicht, dann verstehe ich, dass du vielleicht überfordert bist und-…“

Das ganze wird immer wirrer. Ich unterbreche ihn, indem ich den Kopf schüttle und obwohl ich das sehr langsam und verwirrt tue, hört er auf zu reden.

„War es nicht“, sage ich. Habe die brennenden Küsse von Kaden im Hinterkopf, die anfangs so leidenschaftlichen von Leander und die mit Alec, damals, ganz am Rande. Nein – definitiv war das nicht mein erster Kuss.

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