80. Kapitel - Grace

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Grace

Ich zittere. Wie Espenlaub, von dem in Gedichten immer die Rede ist. Ob es das wirklich gibt? Ich hätte es nachfragen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte. Mein Vater weiß sowas.

Er liebt Poesie. Sagt immer, sie verschönert das Leben in jeder Hinsicht. Von mir aus gerne, schöner kann die Welt ruhig werden.

Ob ich ihn jemals wiedersehen werde?

Amara zerquetscht beinahe meine Hand, so fest drückt sie, doch ich kann es ihr nicht verübeln. Gemeinsam hocken wir in dem winzigen Schutzraum, nahe unserer Zimmer. Fast hätten wir es dorthin geschafft. Beinahe, ganz knapp.

Dann kam uns ein Rebell entgegen gelaufen. Er war so groß und kräftig, so voller Hass...

Er wollte sich auf uns stürzen, gerade an einer Gabelung, und mit einem Messer, an dem Blut klebte. Blut, ganz sicher. Es war rot und ist mir sofort ins Auge gesprungen.

Dieser Mann hatte klare Absichten.

Gerade noch rechtzeitig packte uns Theo, zog uns mit sich.

Rennen, rennen, nicht stolpern. Wichtig. Ohrenbetäubender Lärm um uns herum.

Jetzt herrscht Stille. Hier, in der kleinen Kammer, in der es so kalt und dreckig ist.

Wir hocken zu dritt auf dem Bett, ich in der Mitte, Amara links und Theo rechts.
Starre auf den Ausgang, als müsste ich nur genau genug hinsehen, und er würde sich öffnen. Keine Ahnung, wann er das endlich tut.

Es ist so still. Stille bedeutet nichts Gutes. Nie. Wenn die Vögel aufhören zu singen, sagte Vater mal, dann steht die Welt still. So lange, bis die Gefahr vorüber ist und sie sich wieder zu drehen beginnt.

Jetzt ist einer der Momente, in der die Welt stillsteht. Niemand sagt etwas, bedrücktes Schweigen liegt in der Luft, und dabei hasse ich es, wenn niemand redet.

„Ob es den anderen gut geht? Nivea?“, frage ich und klinge verzweifelt. Theo seufzt leise, er reibt mit seiner Hand über meinen Oberschenkel, seit geraumer Zeit, um die Kälte zu vertreiben. Jetzt hört er auf.

„Wir können nur hoffen. Aber ich glaube daran, dass sie es geschafft hat. Nivea ist stark.“ Stark, stark, stark. Dieses Wort bringt man so oft mit ihr in Verbindung, dabei frage ich mich, ob es überhaupt stimmt.

Nicht, dass ich sie für schwach halten würde. Nur dieses Wort – es kotzt mich an. Man schiebt es immer auf ein Podest, bis oben hin, erster Platz, denn stark sein ist angeblich so toll. Dabei ist man nur stark, wenn man es sein muss. Für Familie, Freunde. Nicht für sich selbst.

Nivea ist sehr selbstlos. Immerzu hilft sie anderen, mir ja auch. Deshalb bewundere ich sie. Aber es macht mir auch Angst, womit sie zurechtkommen muss. So viel Mist zu erleben, das hinterlässt Narben. Ich glaube, sie verliert sich irgendwann. Sie braucht jemanden, der sie genauso stützt.

Und wenn sie das nicht wahrhaben will.

„Athena“, flüstert Amara. Sie ist apathisch, bewegt sich nicht, wie in Schockstarre. Wir haben Athena unterwegs aus den Augen verloren. Sie blieb zurück, als wir um eine Ecke gebogen sind, und dann hörten wir Schreie.

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