47. Kapitel - Späte Stunden

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"Kaden", sage ich. Mehr bringe ich nicht hervor, mein Hirn ist plötzlich leergefegt. Er hat einen braunen Mantel mit Kragen an, eine schwarze Hose und Stiefel. Weil er keine Mütze trägt, ist sein dunkles Haar ganz weiß von den Schneeflocken.

"Wie geht es dir? Hast du große Schmerzen?" Er lässt sich neben mir nieder und ich rutsche ein Stück weg, damit wir uns nicht berühren. Das würde ich definitiv spüren, auch durch die dicken Stoffschichten.

"Es geht schon", meine ich und wende den Blick nicht von dem Schauspiel vor uns ab, das immer hektischer wird. Die Teams haben sich aufgeteilt und sind mutiger geworden, sie nähern sich den anderen immer weiter an. Den ursprünglich ausgemachten Wettbewerb haben sie längst vergessen, jeder kämpft gegen jeden.

Ich würde gerne mitmachen, denn das werfen lag mir schon immer. Das war sehr hilfreich, wann immer ich wütend auf meine Schwester war.

"Ich wollte mich...noch bei dir bedanken", gebe ich zu. "Du hast mir gestern sehr geholfen." Und die ganze Nacht lang. Der Gedanke daran lässt mein Herz schneller schlagen."Das war keine große Sache. Ich hatte nichts anderes vor." Er zuckt mit den Schultern. Ehe ich die Ironie verstehe, dauert es eine Weile, dann verdrehe ich die Augen.

"Sicher. Da kam es dir gerade gelegen, dass ich leiden musste. Ein schönes Abendprogramm." Er lehnt den Kopf in den Nacken, dreht ihn leicht zu mir und schenkt mir ein gewinnendes Lächeln.

In meiner Mitte kribbelt es. Dieser Blick ist unheimlich sexy, seine übliche Arroganz wirkt dieses Mal überhaupt nicht abweisend auf mich. Das erste Mal nehme ich ihn als attraktiv wahr, und das macht etwas mit mir.

Ich verschlucke mich und fange an, erstickend zu husten.

Verdammt, das ist Kaden! Ich kann ihn doch nicht mal besonders gut leiden. Ich muss an etwas anderes denken. Sehr schnell.

"Alles klar? Du musst nicht vorspielen, zu ersticken, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Die hast du schon." Sehr witzig. "Mistkerl", keuche ich. Sowas ähnliches hat er doch schon vor ein paar Tagen gesagt. Er ist so eingebildet, daran muss ich mich unbedingt erinnern.

Irgendwann geht es wieder, auch wenn es mir peinlich ist, so abwartend von Kaden angestarrt zu werden. Normalerweise hätte ich jetzt einen frechen Spruch gebracht, aber weil der Grund meines Nahtods so peinlich ist, spare ich mir das.

Ich lehne mich zurück und atme tief die kühle Luft ein. Sie sticht in meiner Lunge, ich fröstele. Also ziehe ich die Schultern ein und schiebe mein Gesicht noch tiefer unter den Schal, auch wenn das kaum etwas bringt. Reiß dich zusammen, denke ich. In den vergangenen Jahren musstest du sowas oft durchstehen, immer hast du es geschafft.

"Wollen wir spazieren gehen? Du solltest dich bewegen, sonst wird das mit der Kälte nicht besser." Ich schüttle den Kopf, beobachte mit halb geschlossenen Augen Zoe, und wie sich schützend hinter Henry stellt. Die beiden lachen, haben anscheinend einen riesigen Spaß. "Es geht schon."

"Gleich zwei Lügen innerhalb von fünf Minuten. Willst du einen neuen Rekord aufstellen?" Ihm entgeht auch gar nicht. Das ist nervig wie beängstigend.

"Es geht mir gut", wiederhole ich. "In Crowheart war es schon kälter, und da hatte ich keine dicken Winterklamotten."

Nun habe ich auch das Gefühl, mich bewegen zu müssen. Ich raffe mich auf und stelle mich mit dem Rücken zur Schneeballschlacht hin. "Kommst du?", frage ich auffordernd. Er zieht eine Augenbraue hoch, steht aber auf und folgt mir.

Wir gehen einen der freigeschaufelten Pfade entlang, die im Sommer bestimmt wunderschön aussehen. Ich stelle mir die buntesten Blumen und herrliche Düfte vor, Schmetterlinge und Bienen, die dem Garten Leben einhauchen.

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