103. Kapitel - Dünnes Eis

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Nivea

Am späten Nachmittag treffe ich Havanna im Salon. Eigentlich habe ich nach Grace gesucht, die seit ihrer Verbannung aus der Küche verschwunden ist.

Aber der Zufall, Havanna zu begegnen, kommt sehr gelegen.

Ich weiß, dass wir einiges zu besprechen haben.

Nur wenige Frauen halten sich im Salon aus. Das Wetter ist besser geworden, außerdem sind viele der Gäste endlich abgereist. Das hätte ich nach dem Chaos der letzten Wochen auch getan, hätte ich es gekonnt.

Havanna sitzt allein auf einem lindgrünen Sofa und blättert in einer Zeitschrift. Doch ihr Interesse wirkt unecht, als versuche sie bloß, sich irgendwie zu beschäftigen.

Sobald sie mich auf sich zugehen sieht, lässt sie die Zeitschrift sinken und über ihr Gesicht huscht ein Ausdruck des Eifers.

Ich gehe an Victoria und Civil vorbei, die sich nun besser zu verstehen scheinen, und bekomme einige Wortfetzen mit. "Echt jetzt? Das hat er getan?", fragt Civil staunend.

Sie trägt keinen Verband mehr um den Arm, fällt mir auf. Die beiden hocken dicht an dicht auf einem Sofa, vor sich zwei Tassen Tee und Gebäck stehend.

Möglichst unauffällig verlangsame ich meine Schritte. "Oh ja. Und wir waren kurz davor, noch weiter zu gehen. Wenn du verstehst."

Zum Glück sind sie so vertieft, dass sie mich nicht bemerken. Auch wenn ich es nicht sollte, bleibe ich schließlich stehen und tue so, als täte ich das nur, um mir einen Tee einzuschenken. Victoria und Civil haben mir den Rücken zugewendet, trotzdem ist es mutig von ihnen, so laut überdiese Ereignisse zu sprechen.

Wieso ich sie belauschen will, weiß ich selbst nicht. Vielleicht, um das bevorstehende Gespräch noch etwas hinaus zu zögern. Oder weil ich das Gefühl habe, es mitbekommen zu müssen.

Meine Augen sind auf die weiße Tasse mit Goldgriff und Kanne gerichtet, meine Ohren jedoch konzentrieren sich zwischen all den Stimmen und klirrenden Geschirren auf das Gespräch meiner Nemesis.

"Aber das ist doch verboten", raunt Civil erschrocken. Sie trägt ihr Haar zu einem Knoten gesteckt und hat ein lockeres rotes Kleid mit Rüschen an, ihre neue Freundin dagegen hat die Haare offen und Spangen mit Rosenknospen stecken darin.

Sie hat ein schwarzes, sehr eng anliegendes Kleid an, das überhaupt nicht in die golden-vornehme Umgebung passen will.

"Unsinn, es ist erlaubt. Solange wir bei unserer Ankunft Jungfrauen waren, stimmt alles."

Meine Tasse ist fast voll. Ich bin so neugierig, dass ich mir noch einen Teller mit Obst und Törtchen zurecht mache, nur um nicht weiter gehen zu müssen.

Eigentlich sollte ich angewidert sein, oder? Nicht nur, weil Victoria diejenige ist, die über ihre Bekanntschaften spricht. Sondern auch von mir, denn Aushorchen gehört sich einfach nicht.

Und selten kommt etwas Gutes dabei raus. Wie letztes Mal, als ich Kaden und Olivia zugehört habe. Ich schließe die Augen, Erinnerungsfetzen blitzen auf und versetzen mir kleine Stromschläge. Die beiden, so eng bei einander, dass Olivia mit Sicherheit seinen einzigartigen Duft wahrnehmen konnte.

Oder dass sie seine Narbe im Gesicht sah, wer weiß, vielleicht hat sie Kaden sogar schon gefragt, woher er sie hat. Und womöglich haben die beiden schon ganz andere Dinge getan, so vertraut wie Olivia sich mit ihm unterhalten hat

Okay, stopp. Selbstfolter bringt nichts.

Ich verkneife mir ein Seufzen, sammle Tasse und Teller zusammen und nehme beiden hoch. Erst, als ich etwa einen Meter weit gekommen bin und von Havanna fragend angesehen werde, höre ich Civil noch fragen: "Und würdest du es tun? Mit Leander, meine ich?"

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