108. Kapitel - Freier Fall

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Kaden

Ich weiß, dass ich sie reize. Bis aufs äußerste, so dass Nivea rot und ihr Frust förmlich greifbar wird. Ihr Atem geht hektisch und ihr Mund steht leicht offen, Gott, diese Lippen.

Nivea hängt am Fels wie eine Eidechse. Sie weiß, dass sie es lassen sollte. Dass Echsen nicht dazu gemacht sind, so hoch zu klettern. Damit liefert sie sich aus. Präsentiert sich verletztlich, schutzlos und am wichtigsten - angreifbar.

Ich kann nicht anders, als diese Gelegenheit auszunutzen. Überall sonst kann Nivea mir entwischen. Sie haut ab, läuft davon und versteckt sich vor mir. Mir, und vor sich selbst.

Ich habe längst begriffen, dass es um mehr geht. Sie will sich nicht ausprobieren, wollte sie nie. Sie will nicht herausfinden, wer am besten zu ihr passt. Und sie will sich mich nicht wirklich von sich stoßen.

Auch wenn sie verdammt hart versucht, sich davon zu überzeugen.

Wäre ich nicht aufgewachsen, wie ich es bin, wäre mir ihre Fassade nicht aufgefallen. Dann hätte ich nicht bemerkt, wie sie zu kämpfen hat.

Vater sagte mal, der härteste Kampf ist der, den man gegen sich selbst führt. Und in dieser einen Sache gebe ich ihm Recht.

Niveas Blick ist auf den Fels gerichtet. Sie weicht mir aus, schon die ganze Zeit, aber das Sicherungsseil hält sie davon ab, mir zu entkommen. Das klingt, als wäre ich ihr Stalker. Bin ich auch, gewissermaßen.

Denn ich will wissen, wer sie ist. Wer sie wirklich ist. Und dazu muss ich in ihrer Nähe sein.

Von der Seite aus betrachte ich sie. Wie blonde Strähnen tanzen, wie ihre dunklen Wimpern sich heben und senken. Ich hätte nicht gedacht, dass Kunst lebendig sein könnte. Und dass es mir so schwer fallen würde, sie zu verstehen.

Ich muss es tun. Nicht nur für mich, sondern auch für meinen Bruder.

Aber vor allem muss ich schneller sein, als unser Vater.

Deshalb habe ich mich freiwillig gemeldet, heute Niveas Partner zu sein. Luna und Aurora hatten keinen Schimmer, mit wem sie sich nicht verstehen würde. Nicht, bis ich ihnen genug von uns erzählt habe, so dass sie eingewilligt haben.

Ich hasse es, zu hören, dass Nivea so beliebt unter den Kandidaten ist. Das entreißt sie mir, auf eine schmerzhafte und bittere Art. Ich weiß, worum es bei der Selection geht. Der ganze Sinn ist, dass sich Paare finden und allem voran, dass Caravel einen Thronfolger bekommt.

Aber ständig stelle ich mir eine Frage: Wieso nicht ich? Wieso darf es kein wir geben?

Knox, Henry, Andrew und Leander haben eins gemeinsam, und mir damit voraus: Sie dürfen sich frei in ihrer Nähe aufhalten. Und das bringt mich zum Rätseln.

"Vielen Dank für Ihre Antworten! Hoffentlich haben wir Sie nicht all zu sehr gestört. Mittlerweile haben sie fast dreißig Meter geschafft! Ich wünsche Ihnen noch viel Erfolgt."

Die Drohne zieht sich zurück, sinkt nach unten und ich höre, wie Nivea aufatmet.

"Endlich", flüstert sie. Lehnt den Kopf in den Nacken und schaut nach oben. Dabei weiten sich ihre Augen, die eine einzigartige Färbung haben.

Sie sind nicht nur blau, wie meine. Je nach Lichteinfall wirken sie fast grün. Wie das Meer. Als hätte sie zwei Seiten. Eine, die offensichtlich ist und eine andere, die sie versteckt.

 Selection - Futuria Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt