29. Kapitel - Ruhe vor dem Sturm

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Cassy und ich treten gemeinsam den Weg zum Abendessen an, das der Sendung wegen um eine Stunde vorverlegt wurde. Noch tragen wir alle unsere normalen Tageskleider, keines der Mädchen glitzert oder zeigt Bein.

Im Speisesaal angekommen halten wir nach Grace und Amara Ausschau, doch nur noch ein Platz neben ihnen ist frei. "Geh du ruhig", sage ich zu Cassy. Sie hebt die Augenbrauen und schaut mich fragend an. "Warum? Ihr kennt euch doch viel besser."

"Ich habe jemand anderen im Auge. Siehst du Siren dort drüben?" Ich nicke nur vorsichtig in ihre Richtung, um Siren nicht merken zu lassen, dass wir über sie reden. Es ist das erste Mal seit Tagen, dass wir sie zu sehen bekommen. Sie trägt ein schlichtes graues Kleid, dass sie noch blasser wirken lässt, als sie es ohnehin schon ist.

"Du willst dich zu ihr setzen?", fragt Cassandra erstaunt. Ich zucke mit den Schultern. "Alle anderen meiden sie. Das ist doch nicht fair. Wenn sie heute wirklich abreisen muss, dann soll sie zumindest nicht das Gefühl haben, dass sie alle hassen."

Der Saal füllt sich weiter, doch niemand möchte sich zu Siren setzen, die extra am äußeren Ende des Tisches Platz genommen hat. "Hassen ist nicht das richtige Wort, glaube ich. Verachten trifft es eher. Du hast Recht, sie kann sicher Unterstützung gebrauchen. Ich komme mit."

"Ach nein, das musst du nicht. Setz dich ruhig zu Grace, sonst denken sie noch, wir hätten etwas gegen sie." Die rothaarige betrachtet uns nämlich schon mit zusammengekniffenen Augen, seit wir hier stehen. Cassy zögert, doch schließlich seufzt sie und lächelt mir schwach zu. "Von mir aus. Ich hoffe nur, dass Grace mich nicht mit einer Gabel ersticht."

"Wird sie nicht. Vermutlich.", ärgere ich sie. Danach trennen wir uns, ich straffe den Rücken und schlage meinen Weg zu Siren ein. Diese starrt geradeaus ins Leere, nimmt mich erst wahr, als ich neben ihr stehe. "Hey", sage ich leise. Sie blickt zu mir auf und schluckt sichtbar. "Falls du mich verspotten willst oder vor hast, mir zu sagen, was ich für eine Schlampe bin - keine Sorge, das haben Victoria und die anderen schon erledigt."

Geschockt sehe ich sie an. Ihre blauen Augen sind glanzlos und traurig, ihre Haare hängen ihr offen über die Schultern und wirken zerzaust. Ob ihr die Zofen entzogen worden sind?

"Sowas würde ich niemals tun. Darf ich mich setzen?" Siren zuckt mit den Schultern, scheint verunsichert zu sein, welchen Plan ich verfolge. Ich setze mich und blicke nach links, wo sich die letzten freien Plätze im ganzen Saal befinden. Drei Kandidatinnen stehen noch am Eingang, werfen immer wieder kurze Blicke zu uns herüber.

"Die verhalten sich echt lächerlich.", spreche ich meine Gedanken laut aus. "Schließlich hast du keine ansteckende Krankheit." Siren schüttelt den Kopf. "Das scheinen die meisten hier anders zu sehen. Du bist die Erste, die sich getraut hat, mit mir zu reden." Wie bitte? Das ist doch verrückt. Es falsch, was sie getan hat, aber deshalb muss man sie nicht wie eine Aussätzige behandeln.

"Aus welchem Bezirk stammst du?"

"Fünf." Dann kann ich noch weniger böse auf sie sein. Nur den Bezirken Eins bis Vier werden kostenlose Verhütungsmittel zur Verfügung gestellt, bei uns in Medea müsste man für eine Packung Kondome ein ganzes Jahr arbeiten.

"Vielleicht ist dir die Sache zu intim, aber... War es einvernehmlich?" Meine Wangen färben sich leicht rot. Mehr als einen Kuss habe ich noch nicht erlebt, aber ich weiß, was Mädchen zu zu später Stunde auf den Straßen passieren kann.

"Ja. Und zwar einen Monat, bevor man die Selection angekündigt hat. Lustig, oder?" Aber nicht mal Siren lächelt darüber. Ich greife nach ihrer Hand, weil ich sehe, wie kurz sie vor den Tränen steht. "Du wirst es schaffen, das Kind aufzuziehen. Weiß der Vater, dass du schwanger bist?" Sie schnieft und schüttelt mit dem Kopf. Um sie abzuschirmen, drehe ich mich seitlich zu ihr und lehne mich weit genug vor, damit niemand ihren Ausbruch mitbekommt.

 Selection - Futuria Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt