97. Kapitel - Nicht allein

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Nachts ist das Gewächshaus noch viel schöner als tagsüber. Lichterketten in Gold- und Silbertönen leuchten in den Obstbäumen und Lampions hängen von deren Zweigen. Blätter rascheln, sie werden von Luftströmen angestrahlt, die für ein feuchtes Klima sorgen.

Als Leander mir gestern verraten hat, wonach ich suchen muss, ist mir die Schönheit dieses Orts erst so richtig bewusst geworden.

Ohne andere Menschen fühlt es sich hier weniger künstlich an. Weniger nach Der Palast ist so reich, wir können uns einen Sommergarten zu jeder Jahreszeit leisten oder Schaut nur, all die exotischen Pflanzen, die so herrlich nach Angeberei aussehen.

Da ist einfach nur Grün. Ab und zu sind da Farben wie pink, gelb oder blau, aber bei den schwachen Lichtverhältnissen lassen die sich schlecht voneinander unterscheiden. Ich fühle die Ruhe, die mich umgibt. Sie lässt mich ein Teil von ihr werden, und es funktioniert tatsächlich.

Ich entscheide mich für einen Weg, der mit kreisrunden Kieselsteinen ausgelegt wurde. Andere sind es mit groben Spähen oder Rinde, eben Naturalien, die zu dem künstlichen Regenwald passen sollen.

Links und rechts werden die Wege von hölzernen Pfeilern und Seilen begrenzt, die als Zaun fungieren sollen. Ich mag das Geräusch der knirschenden Steine unter mir und die vielen verschiedenen Gerüche. Es ist so anders hier.

Ich war noch nie außerhalb von Caravel, bis vor ein paar Wochen ja nicht mal abseits von Crowheart. Aber wenn ich jetzt sehe, wie viel mehr es auf der Welt gibt, dann möchte reisen. Ich will weg, mal ganz woanders hin, wo es nur zählt, wo ich bin, und nicht, wer ich bin.

Alle paar Meter erreicht mich ein neuer Duft, mal süß und fruchtig oder erdig und herb. Am heftigsten duften die reifen Mandarinen an einem Baum, der sich relativ in der Mitte des Gewächshauses befindet. Das ist unglaublich.

Obst das in einem Glashaus wächst, ganz ohne Hilfe der Sonne.

Ich kann nicht wiederstehen und strecke eine Hand nach den Früchten aus, umfasse eine und ziehe daran.

Ohne große Mühen löst sie sich, als wäre der Baum erleichtert, dass ihm die Last abgenommen würde. Ich frage mich, ob jemand die restlichen Früchte pflücken wird. Wenn sie verderben, wäre das eine Schande.

Ich zupfe ein Blatt von der Mandarine und hebe sie dicht vor mein Gesicht, um daran zu schnuppern. Ja, ich glaube, das ist mein Lieblingsgeruch.

Das erste Mal war ich hier, als wir nach dem Unterricht Kuchen gegessen und Tee getrunken haben. Da hat Benjamin mir bewiesen, was für ein Monster hinter seiner Fassade steckt.

Ich schließe die Augen und glaube, auch Wasser zu hören. Irgendwo muss ein Teich sein, vielleicht auch ein künstlich angelegter Bach. Es würde mich jedenfalls nicht wundern.

Du bist hier, im Palast. Und da wirst du bleiben. Davon muss ich mich überzeugen. Fünf Wochen, das wird schon. Ich habe schlimmeres durchgestanden, mein ganzes Leben war ein einziger Marathon. Und theoretisch geht es mir gut.

Ich muss keine Sorgen haben, zu verhungern oder auf offener Straße überfallen zu werden. Gut, diesen Part könnten die Rebellen nun übernehmen. Aber ich kann heiß duschen oder baden, wann immer mir danach ist.

Ich trage Kleider aus den feinsten Stoffen und werde der Bevölkerung Caravels als glänzendes Juwel präsentiert. Es ist okay. Mehr als okay sogar.

Nur ich selbst bin das Problem. Also, schalte ab und genieße es. Dann fällt es dir leichter zu lügen, wirst schon sehen. Oh man. Wenn ich jeden Abend her kommen würde, dann könnte ich es tatsächlich aushalten.

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