70. Kapitel - Zoe

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Zoe

Meine Mutter war sechzehn, als sie das erste Mal schwanger wurde. Siebzehn, als sie mich bekam und achtzehn, als sie entschied, ein weiteres Kind zu wollen. Den Teil hätte sie gründlicher durchdenken sollen.

Mit neunzehn wurde mein Bruder Kios geboren, ein Jahr später verabschiedete sich unser Vater und flüchtete nach Fünf. Soweit ich weiß, heiratete er dort eine Frau namens Issi und die beiden gründeten eine neue Familie. Damals habe ich nicht verstanden, wie er so handelnd konnte. Wie für jedes Kind waren meine Eltern perfekt, sie waren meine Helden und Vorbilder. Umso schlimmer, als Super-Dad uns verließ und meine Illusion damit zerstörte.

Er hatte es sogar auf sich genommen, einen Bezirk nach unten zu rutschen, nur um von uns weg zu kommen. So übel fand er uns.

Als Mutter einundzwanzig war, entschied sie, dass Partys ihr besser gefielen als arbeiten zu gehen. Sie sagte, sie wäre zu jung um die Rolle einer Mutter einzunehmen und wollte noch etwas Spaß haben. Ich dachte, okay, warum nicht, jeder mag Spaß. Auch wenn ich mir immer wünschte, sie fände ihn in ihrer Aufgabe als Mutter.

Ab meinem vierten Lebensjahr lernte ich also mein zweites Zuhause kennen, bei Oma und Opa. Sie hatten ein eigenes Haus, süß und gemütlich, sogar mit Vorgarten und einem Vogelhaus in Form einer riesigen Taube. Die Nachbarschaft bestand aus freundlichen Familien, vielen Kindern in unserem Alter und einer Menge Obstbäume, von denen wir im Sommer naschten. Es war okay, dort einzuziehen. Unsere Großeltern waren nett, vor allem aber waren sie da.

Mutter besuchte uns jeden dritten Morgen, legte einen Umschlag mit der Hälfte ihres Gehalts auf dem Küchentisch ab, wuschelte durch Kios dünne Haare und sagte mir, ich müsse tapfer sein. Immer und immer wieder, also war ich es, denn ich wollte Mommy stolz machen.

Woher das Geld kam, wusste keiner von uns. Obwohl, vermutlich wussten unsere Großeltern es schon. Und heute, so viele Jahre später, kann ich es mir ebenfalls denken. Wobei verdient man schon Geld, mitten in der Nacht, auf Feiern? Es ist so beschämend, dass wir Kios erzählen, sie wäre eine Geheimagentin. Das erklärte ihre ständige Abwesenheit und noch dazu liebte Kios es, vor seinen Freunden damit anzugeben.

Die Besuche wurden weniger, von wöchentlich zu monatlich und schließlich überhaupt nicht mehr. Ich war sechs, als ich das letzte Mal etwas von ihr hörte. Keine Ahnung, ob sie noch lebt. Keine Ahnung, ob ich das wollen würde. Für mich ist sie tot. Für mich war sie nie eine Mutter, nur eine Frau, die unkluge Entscheidungen getroffen hatte und damit alle ins Chaos stürzte.

Doch erstmal ging mein Leben bergauf. Ich besuchte die Grundschule, war eine der besten im Rechnen und hatte meinen ersten Kuss in der vierten Klasse. Mit Luke, so hieß er. Kios wurde eingeschult, als ich auf die fortgeschrittene Schule wechselte. Dort lernte ich, dass Mädchen sehr gemein sein können und keine Eltern zu haben offenbar nicht so normal war, wie man es mir beigebracht hatte.

Von da an hütete ich also ein Geheimnis. Es klingt dumm, aber tatsächlich verschaffte es mir Beliebtheit, mich an die reichen Mädchen anzupassen und damit meine ich, mich wirklich anzupassen. Ich trug die Haare wie sie - lang, stets gelockt - und schminkte mich wie sie - immer auffallen, nie zu übertrieben - und kaufte Klamotten die ihren ähnelten. Sie waren so teuer, dass ich mir heute unendlich dumm vorkomme.

Mit dreizehn bekam ich meine Periode, von da an wurde einiges komplizierter. Man könnte sagen, meine Kindheit endete zu diesem Zeitpunkt. Opa wurde krank und konnte nicht mehr arbeiten gehen, er gab seinen Job als Anwalt auf und Oma musste sich um ihn kümmern.

 Selection - Futuria Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt