54. Kapitel - Gemeine Sache

87 12 10
                                    

Havanna

"Die Menschen müssen lernen, zu lieben", sagt Nalu und bewegt seinen Körper nach vorn, bis er gegen den Tisch stößt. Seine Arme fuchteln fahrig durch die Luft, jeder aus hundert Metern Entfernung kann ihm ansehen, wie betrunken er ist. Gut so.

Also, für uns.

Ich werfe Nivea einen kurzen Blick zu. Zuerst hatte ich Angst, sie würde mein Vorhaben nicht verstehen, und dann, sie würde sich nicht trauen. Aber Nivea macht mit. Sie ist stärker, als sie aussieht, was ihr nur zu gute kommt. Niemand würde ihr ansehen, was in ihr vor geht. Zum Glück weiß ich es.

"Liebe ist nichts, was durch eine Fernsehshow entstehen kann." Immer wieder schweift er vom Thema ab. Ich unterdrücke ein Seufzen. Bis jetzt haben wir nur erfahren, dass es an den Grenzen keinen Alkohl gibt, dass die Leute dort unfreundlich sind und man keinen Frauen vertrauen sollte, die Jolina heißen.

So viel also dazu. Die Zeit rennt davon, nur noch eine halbe Stunde, bis man die Kandidatinnen zum Shooting abholen wird. Ich muss mir etwas einfallen lassen.

"In Medea liebte ich einen Jungen", sagt Nivea plötzlich. "Die Grenzen sind von Crowheart noch ein gutes Stück entfernt, aber...ja. Ich weiß, was du meinst." Der Schmerz in ihren Augen löst bei mir Mitleid aus.

Nalu richtet seine Aufmerksamkeit vom Inhalt seines Glases fort und auf das hübsche Mädchen, dass ihm gegenüber sitzt. Nivea ist eindeutig sein Typ. Über die Jahre hatte er viele Freundinnen, aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten. Nur eines hatten sie gemeinsam: Sie waren blond und leicht zu beeindrucken.

Da Nivea das mit Sicherheit nicht ist, muss sie etwas vor haben. Eine neue Herangehenstaktik.

"Erzähl mir mehr, Rabenmädchen."

Sie holt tief Luft. Ich kenne sie erst kurz, spüre aber, dass es ihr schwer fällt, über die Vergangenheit zu reden. Nicht über das, was offensichtlich ist - das Leid, die Trauer und die Armut. Sondern das, was sie persönlich erlebt hat. Henry dreht sich zu ihr, um kein Detail zu verpassen.

Er mag sie. Das ist offensichtlich. Aber nicht so sehr, wie der Mann drei Tische weiter, der sie immer wieder anstarrt. Seine Gefühle sind aufrichtig, wenn auch nicht einfach. Er scheint mir nicht der Typ dafür zu sein, Zuneigung so offen zu bekunden.

Auch jetzt wirft er ihr einen Blick zu, schenkt seiner Begleitung keine Beachtung. Vielleicht ist die Selection doch nicht nur ein großer Witz, nicht für alle. Wenn zwei Seelen für einander bestimmt sind, werden sie sich finden. Vielleicht muss Nivea sich nur aufmerksamer umsehen. Blinzelnd sehe ich wieder zu ihr.

Nivea spricht mit gesenktem Kopf, sie betrachtet die Scheibe Brot mit Birnen und Ziegenkäse, aber nimmt die Nöstlichkeit gar nicht wirklich wahr. Ich habe vorhin einen Blick auf die Karte geworden - dieses Gericht kostet so viel wie zehn Gläser Champagner zusammen.

"Er hieß Alec", flüstert sie. Obwohl alle um uns herum sich laut unterhalten, bin ich mir sicher, jeder von uns versteht sie. Eine bedrückende Stimmung legt sich über uns. "Wir waren fünfzehn. Haben jeden Tag zusammen verbracht, an dem wir nicht arbeiten mussten."

Nalu nickt, als würde er die Geschichte bereits kennen. Henry runzelt die Stirn. Wenn er jetzt auf einen Jungen eifersüchtig ist, der wahrscheinlich tot ist, dann hat er wirklich ein Problem, denke ich.

"Sechs Monate. Dann kam der Brief. Er war der einzige Sohn seiner Famlie. Lila und Jacob, so hießen sie." Ich schlucke. "Hießen?", frage ich. Im nächsten Moment bereue ich es, natürlich kann ich mir denken, was passiert ist... "Sein Vater starb an einer Grippe, die Mutter erhängte sich."

 Selection - Futuria Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt