107. Kapitel - Anstrengen, los

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Während der Sicherheitseinweisung sehe ich Kaden nicht an. Er steht neben mir, viel zu dicht, und ich glaube, noch etwas länger und ich drehe durch.

Versuche schon mit aller Macht, ihn auszublenden und auf die Anweisungen zu hören. Allerdings stehen wir einander nah, zu nah, und wie durch Zufall hat seine Hand schon mehrmals meine gestreift.

Ich hasse es, mich nicht konzentrieren zu können. Das hier ist wichtig, und ich kann nicht riskieren, schon jetzt abzuschalten. Dann habe ich erst recht keine Chance, es nach oben zu schaffen.

Also trete ich einen Schritt von ihm weg und Druck auf den Kratzer an meiner Hand aus, über dem nur ein Pflaster aus dem Erste-Hilfe-Kasten klebt. Mit jedem Pieker erinnere ich mich daran, hier zu stehen. Hier unten, am Fuße eines gigantischen Berges. Hier unten, auf dem Boden der Tatsachen.

Mir ist kalt und ich bin aufgeregt, das ist es, woran ich denken sollte. Stattdessen ist meine Aufmerksamkeit nach außen gekehrt. Weg, einfach so. Sie klammert sich an vergangene Momente und zarte Berührungen, nur um mich zu foltern.

Ich stehe zwar direkt neben Kaden, darf ihn aber nicht anfassen, ihn ansehen und kann schon gar nicht darf ich zu ihm sagen, was ich wirklich will. Da ist eine Mauer zwischen uns, muss sie sein, denn Mauern trennen zwei Seiten von einander.

Kaden und ich, wir sind diese Seiten. Und schon viel zu viele Steine haben sich aus der Mauer gelöst.

Denn ich habe Mist gebaut. Zweimal.

Zuerst im Ballsaal, dann im Vulkan. Jedes Mal, wenn ich zugelassen habe, dass meine Gefühle die Oberhand ergriffen und mich dazu brachten...die Kontrolle zu verlieren. Jeder Kuss hat mich weiter abseits katapultiert, hin in Richtung auffliegen, hin in Richtung Gefängnis.

Oder schlimmerem. Also ignoriere ich ihn. Denke nicht mehr an unsere Küsse, oder darauf, wie sich seine Haut auf meiner anfühlt.

Stattdessen ist er nur ein Fremder für mich. Jemand, den ich gerade erst kennengelernt habe und der mir nichts bedeutet. Wie auch. Er kennt mich nicht, nicht wirklich, und ich ihn auch nicht.

Wir müssen zusammen eine Steilwand hinauf klettern? Hey, kein Problem! Ich wollte schon immer so etwas gefährliches tun, nur um die Bevölkerung Caravels für zwanzig Sekunden Sendezeit zu unterhalten. Das wird spaßig!

Klinge ich hysterisch? So fühle ich mich nämlich.

Ich beiße mir fest auf die Unterlippe und verfolge Pepps Einschulung.

Er erklärt uns, dass wir beide an Sicherheitsseilen hängen. Jeder individuell, und die sind auf der Plattform fünfzig Meter über uns befestigt. Angeblich stabil genug, dass nur sie erst beim Gewicht eines Kleinwagens reißen würden.

Zusätzlich gibt es ein zweites Seil, und das verbindet uns. Mich und Kaden. Seine Spannweite beträgt fünf Meter, also können wir nicht weiter als diese auseinander.

Erst mal hören sich fünf Meter nach viel an. So weit ist der Abstand meiner Badezimmerwände, und so groß unser das Wohnzimmer in Crowheart.

Leider zeigt sich anhand erster Kletterübungen, dass fünf Meter keineswegs viel sind. Wir müssen dicht beieinander bleiben, denn die beste Aufstiegsstelle ist nun mal auch die einzige, die für uns Anfänger in Frage kommt.

Einer von uns muss vor gehen, beziehungsweise steigen, und der andere mit etwas Abstand hinterher oder schräg daneben. Deshalb ist das Spektakel so groß, wenn einer von uns abstürzt. Wir sind beide noch gesichert, aneinander, und deshalb wirkt es so dramatisch.

Der nicht fallende wird zwingend mitgerissen, es sei denn, er kann sich verdammt gut festhalten. Und das hält Pepp für unwahrscheinlich.

Ich verschränke die Arme, als das Startsignal erklingt und sich die Kameras auf uns richten. Pepp verschwindet aus meinem Sichtfeld und dieses schränkt sich stark ein. Da sind nur noch der Fels und die Menschen, die mich an ihn hoch klettern sehen wollen.

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