33. Kapitel - Kuss

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Erst am Sonntag treffen Leander und ich wieder aufeinander. Naja, eigentlich kann man das gar nicht so nennen. Ich stand draußen auf dem Balkon und betrachtete den Garten, als über mir Schritte erklangen und sich keine fünfzehn Sekunden später ein blonder Mann auf mein Geländer schwang.

"Guten Abend", wünscht mir Leander und springt mit einem Satz neben mich. Auch, wenn er das schon einmal getan hat, habe ich mich trotzdem erschrocken, so dass mein Herz schneller schlägt. Das er sich in der Dunkelheit so zielsicher von Balkon zu Balkon bewegen kann, ist höchst interessant.

Ich verschränke die Arme, kann mir ein kleines Lächeln aber nicht verkneifen. "Ihr wisst, dass es auch eine Treppe gibt?"

"Schon, ja. Aber wozu die Umstände, wo wir doch quasi Nachbarn sind?"

"Klar. Habt Ihr den Brief?"

Leander wirkt etwas enttäuscht, dass ich gleich zum Wesentlichen wechsele. Dennoch nickt er und greift in seine Hosentasche, aus der er anschließend das Briefpapier samt Umschlag zieht.

"Danke", sage ich und nehme es entgegen, atme erleichtert durch. Die Decke über meinen Schultern hält mich warm, nur mein Gesicht muss unter der winterlichen Kälte leiden.

Briefe dürfen wir momentan noch nicht schreiben. Sonst hätte ich einfach meine Zofen nach den Papieren gefragt. Aber bis zu den Live Sendungen müssen wir warten, damit wir niemandem zukommen lassen, wie wir bei Prüfungen abgeschnitten haben oder was sonst so im Schloss vor sich geht. Eine neue Regel, die uns Aurora erst gestern verkündete.

"Ist zwischen uns alles wieder geklärt?" Ich betrachte Leander, suche nach Anzeichen, für versteckte Hintergedanken. "Warum ist es Euch so wichtig, dass wir uns verstehen?", gebe ich zurück. Leicht lege ich den Kopf schräg, warte ehrlich gespannt ab.

Er lehnt sich gegen das Geländer und verschränkt die Arme vor der Brust. "Weil der Grund unserer Auseinandersetzung wirklich dumm war. Wir haben uns gut verstanden, und dann habe ich es vermasselt."

"Nein", wende ich ein. "Ihr habt bloß einen Witz gemacht. Ich war es, die alles falsch verstanden und dann überreagiert hat." Das endlich zu zugeben, tut gut. Leander seufzt und deutet mir, mich zu ihm zu stellen.

"Wir haben beide Schuld. Genauso wie wir beide Recht hatten. Jeder von uns kann tun und lassen, was er will." Damit meint er, andere Dates zu haben. Wenn er wüsste, wie wenig mich die Selection in dieser Sicht interessiert, wäre Vieles einfacher. Obwohl ich zugeben muss, dass meine Gefühle sich verändert haben.

Die Kandidaten und Kandidatinnen sind mir nicht mehr egal, und besonders die männliche Seite bereitet mir Probleme.

"Ja, nur... Beantworten Sie mir eine Frage", bitte ich ihn. Mittlerweile lehne ich neben ihm, habe das steinerne Geländer im Rücken und starre die verzierte Schlosswand an. Wenn ich nur daran denke, die nächsten Worte auszusprechen, werde ich ganz unruhig.

"Nachdem wir uns gestritten haben...habt Ihr viel Zeit mit Victoria verbracht. Warum?" Ich zwinge mich, keine Emotionen zu zeigen. Etwa Neid, Schmerz oder Wut. Denn von all dem trage ich etwas in mir.

Ich muss es einfach wissen. Seit Tagen beschäftigt es mich, warum die beiden so viel Zeit miteinander verbringen. Er kann sie doch nicht wirklich nett finden, oder? Victoria ist die unsympathischste Person, die mir je begegnet ist.

Leander verändert seine Stellung, er dreht sich zu mir und rückt näher an mich heran. Sein Haar glänzt im Mondlicht, seine Augen fangen meine ein. Ich bekomme eine Gänsehaut, schaue zu ihm auf.

"Ehrlich gesagt", beginnt er. "Weil ich gehofft habe... Sie damit eifersüchtig zu machen", murmelt er. Sein warmer Atem schlägt mir entgegen, steigt in kleinen Wölkchen zum Himmel auf. Ich schlucke schwer und kann nichts dagegen tun, dass mein Blick zwischen seinen Augen und Lippen hin und her springt.

 Selection - Futuria Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt