89. Kapitel - Die Verhandlung

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Die Fahrt zum Gerichtssaal dauerte eine halbe Stunde. Grace schweigt und sieht aus dem Fenster, Athena versinkt in ihrem Ordner und den Notizzetteln. Ich starre nur auf meine Hände, die ich im Schoß gefaltet habe. Verzichte darauf, mir Futuria genauer anzusehen.

Ab und zu bekomme ich aus dem Augenwinkel mit, wie ein Hochhaus Sonnenlicht reflektiert und versucht, durch die verspiegelten Fenster zu dringen.

In mir herrscht große Leere. Ein Loch, dass alle Gefühle in sich versinken lässt.

Als wir ankommen, steige ich als letze aus. Am liebsten würde ich einfach sitzen bleiben, im kühlen Leder versuchen, mein Chaos zu ordnen. Radio aus, Fenster verschlossen halten und die Paparazzi ausblenden. Sie stürzen sich auf alle Teilnehmer der Selection, bombadieren sie mit Fragen und fangen unsere Gesichtsausdrücke ein.

Damit jeder auch beim Zeitunglesen nachvollziehen kann, wie mies es uns ging. "Kaum", sagt Grace. Sie wendet den Fotografen ihren Rücken zu und benutzt die Autotür, um uns abzuschirmen. "Wir stehen das gemeinsam durch."

Ihr nach draußen zu folgen, ist schwer. Meine Gelenke scheinen einbetoniert zu sein, so störrisch sind sie. Ich klammere mich an den Ordner und betrete den ausgerollten Teppich. Dieses Mal ist er nicht rot, das würde schlecht zu dem riesigen Gebäude passen.

Ich schaue nach oben und lasse das Gerichts auf mich wirken. Treppen führen zum Eingang hinauf, unendlich viele Stufen, die uns der Hölle näher bringen. Links und rechts sind Geländer, welche die Schaulustigen zurück halten. Trotzdem strecken sie die Arme nach uns aus, rufen Namen und wollen Autogramme haben.

Mir egal, ob sie mich für eingebildet halten werden. Ich ignoriere sie alle. Konzentriere mich auf meine Schritte und darauf, nicht zu stolpern.

Das Gericht ist Vaters Schilderungen nicht mal annähernd ähnlich. Vermutlich waren seine Quellen Bücher, was auch sonst. Die Mauern erheben sich hoch in den Himmel, sie sind grau und wirken bedrohlich. Es gibt nur wenige Fenster, sehr kleine in Form von Vierecken.

Allein der Eingang ist einschüchternd, denn man erkennt nicht, was dahinter liegt. Die Türen sind aus massiven Metall. Zwei breitschaltrige Männer in schwarz stehen davor, kontrollieren gemeinsam mit Luna unsere Identitäten. "Kommt es nur mir so vor, oder sieht das aus wie ein Gefängnis?", raunt Grace.

Bei all den Rufen verstehe ich kaum, was sie sagt. Athena zischt und das, während sie lächelt. "Hier sind überall Ohren", erklärt sie.  Winkt den Leuten zu und blendet aus, dass sie meinen Namen brüllen.

"Doch, du hast Recht." Ich schaue Grace von der Seite an. Ihr Kleid flattert im Wind, lose Strähnen aus ihr Flechtfrisur fliegen in alle Richtungen. So, als würden sie fliehen wollen. Grace wirft mir ein aufmunterndens Lächeln zu. "Die paar Stunden. Wir haben schon schlimmeres durchgestanden. Man könnte fast sagen, das wäre unsere Rache."

Darauf erwiedere ich nichts. Würde ich es tun, käme mir nämlich etwas sehr gemeines über die Lippen. Schroff und verletzend, und das hat sie nicht verdient.

Nach drei Minuten erreichen wir den Eingang. Ich schwitze, obwohl es so kalt ist, und fühle mich, als stünde ich vor meiner persönlichen Hinrichtung. Luna hat eine schwarze Bluse und einen gleichfarbigen Rock an, der ihr bis zu den Knien reicht.

Sie lächelt, doch ihre Gesichtszüge sind so angespannt, dass es unehrlich wirkt. "Nivea Santos und Grace Lumer." Mehr ist nicht nötig. Irgendwo piept es und die Tür öffnet sich einen Spalt breit. Sie schabt über den Boden, erinnert mich an das Kratzen bei den Schutzkammern.

"Beeilung bitte." Der größere von beiden deutet mit einer winzigen Kopfbewegung zum Eingang. Er klingt furchtbar ernst.

Ich ergreife Grace' Hand und hintereinander quetschen wir uns in das Innere. Fast sofort wird es noch kälter. Meine Augen huschen umher, nehmen schnell jedes Detail des Flures wahr.

 Selection - Futuria Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt