117. Neustart fürs Leben

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Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat verging und Diego tauchte nicht auf. Seit dem Vorfall, wo ich mitten in der Nacht vor Schmerzen und blutüberströmt aufgewacht war, hatte ich nichts mehr von Diegos Nähe gespürt. Es war, als wäre er nie da gewesen. Er war einfach verschwunden. Mein Kind hatte ich in der Nacht damals verloren und ich musste ein paar Tage in der Klinik bleiben. Mir wurde prophezeit, dass ich womöglich nie wieder Kinder bekommen könnte, aber das war mir egal! 

Ich würde keine weiteren Kinder ohne Diego haben wollen. Violetta war inzwischen zweieinhalb Jahre alt und die Mehrwortsätze wurden allmählich mehr. Nach Diego fragte sie kaum noch und gegen meinen Willen vergaßen wir ihn jeden Tag ein bisschen mehr. Ich hatte mich mindestens drei Wochen lang in meinem Schlafzimmer verbarrikadiert, nachdem ich mein anderes Kind verloren hatte. Irgendwann hatte ich mich dann doch aufgerafft und haben mir eine neue Arbeit gesucht. 

Nun unterrichtete ich Schülerinnen und Schüler in Theater und Tanz sowie auch Gesang. Der Unterricht war immer gut besucht, was wahrscheinlich daran lag, weil ich Clara Alonso war. „Clari! Maia hat schon wieder mein Skript verlegt!", schrie Kylie, ein zwölfjähriges Mädchen mit langen blonden Haaren. „Warum gibst du ihr überhaupt dein Skirpt? Du solltest doch langsam wissen, dass sie es immer überall liegen lässt!", antwortete ich ihr lustlos. „Sie denkt schon wieder an Diego!", stellte Sanquita, ein siebzehnjähriges Mädchen mit kristallblauen Augen, leise fest. Die drei Mädchen zogen sich leise zurück und probten ihre Szenen. 

Sie hatten sich entschieden Violetta nach zu spielen und selbst die Jungs waren damit einverstanden gewesen. Es war einfach atemberaubend schön zu sehen wie die gewohnten Rollen durch die Schülerinnen und Schüler zu neuem Leben erwachten. Aber mir wurde sofort klar, dass dieses Stück niemals an die Serie herankommen würde. „Leute, wir machen Schluss für heute! Ich habe beschlossen, dass wir etwas anderes spielen werden, dafür muss ich aber erst einmal Skript herstellen! Wir sehen uns in zwei Tagen wieder und ich hoffe, dass ich euch da schon den ersten Teil vom neuen Stück haben werde." 

Die meisten Gesichter waren traurig und enttäuscht. „Keine Sorge, etwas wird ganz nah an Violetta liegen. Ich weiß schon was ich machen werde und ihr werdet begeistert sein!", meinte ich und verabschiedet die Kinder und Jugendlichen ins Wochenende. Jubelnd nahmen sie ihre Taschen und rannten aus der Aula. Lachend sah ich ihnen nach und fing an meine Sachen einzupacken. Nebenbei räumte ich auch noch die Bühne auf, wobei ich auch Kylies Text fand, der unter einigen Requisiten lag. Ich packte ihn in meine Tasche, schließlich würde Kylie ihn nicht mehr benötigen. Ich warf ein Blick auf mein Handy. 

Den Hintergrund meines Sperrbildschirmes zierten Flor und Ezelchen bei ihrer Hochzeit. Auf dem Bild sahen beide total glücklich aus. Ein leiser Seufzer entwich mir und ich packte mein Handy ein. Nachdem ich die Aula verlassen hatte, schloss ich die Tür ab und ging die Treppe runter auf den angrenzenden Schulhof. Die stickige warme Sommerluft schlug mir sofort entgegen. Im Auto schaltete ich als allererstes die Klimaanlage an und startete den Motor. 

Die Fahrt dauerte relativ lange, denn ich befand mich im Feierabendverkehr. In der Innenstadt herrschte Stau. Ungeduldig trommelte ich auf dem Lenkrad meines Wagens herum und hoffte einfach nur so schnell wie möglich hier raus zu kommen. Ich wollte nur noch nach Hause und mich mit Vicente im Schlafzimmer verkriechen. Der kleine Welpe wich mir seit der schlimmen Nacht, wo ich mein Kind verlor, nur noch ungern von der Seite. Violetta schlief seit drei Monaten jede Nacht bei mir und Vicente im Bett. Langsam löste sich der dichte Verkehr auf, aber es löste sich halt wirklich sehr langsam auf. 

Als mein Handy plötzlich anfing zu klingeln, zuckte ich erschrocken zusammen, nahm aber ab. „Clara Alonso?", sagte ich und lauschte auf eine Antwort. „Wo bist du, Clari?", hörte ich meine Schwester hauchen. „Ich stehe im Stau, wenn der nicht wäre, dann müsste ich nur noch fünf Minuten fahren. Warum? Ist irgendwas passiert? Muss ich mir Sorgen machen?", fragte ich nervös. „Nein, nein, alles gut! Aber ich muss dir was sagen... Das geht nur nicht am Telefon, du würdest es mir ja eh nicht glauben! Beeile dich aber. Sei aber vorsichtig!", meinte sie wie in Trance. 

„Wirklich alles in Ordnung mit dir?", murmelte ich besorgt. „Komm einfach nach Hause!", seufzte sie und danach brach die Verbindung ab. Was war das denn gerade? Ich wurde immer unruhiger und dieser verfluchte Verkehr trieb mich zur Weißglut. Endlich stand ich bei der verdammten Ampel, die mich schon seit ganzen vierzig Minuten in der Innenstadt hielt. Als sie dann wirklich auf Grün umsprang, trat ich auf das Gas.

 Ich konnte es nicht erwarten wieder nach Hause zu kommen. Völlig fertig und müde parkte ich das Auto auf dem Hof und stieg langsam aus. Draußen war es noch immer unerträglich heiß, weshalb ich mich direkt zum Haus begab. Im Haus war niemand außer der kleine Hund, der mich freudestrahlend begrüßte. „Ich freue mich auch wieder hier zu sein, Vicente, aber ich möchte jetzt erst einmal duschen gehen und dann können wir beide kuscheln! So wie immer, mein kleiner Schatz!", versprach ich dem jungen Hund.

 Ich strich ihm liebevoll über den Kopf und lief dann die Treppe hinauf ins Badezimmer. Ich drehte das Wasser in der Dusche auf und fing an mir meine Kleidung abzustreifen. Ordentlich legte ich die Sachen zur Seite und zog die Haarspangen aus meinen Haaren und sprang eilig unter das kalte Wasser. Seit Diegos Verschwinden duschte ich nur noch kalt, weil es mich beruhigte. Stundenlang konnte ich unter dem kalten Wasser stehen, ohne dass ich fror. 

In meinen Kopf spielte sich Diegos und meine Geschichte immer wieder von vorne ab. Wie wir uns das erste Mal am Set getroffen hatten, wo er versucht hatte mich vor Angelo zu beschützen, seine unendliche Geduld mit mir, die Geburt von Violetta bis hin zu seinem Verschwinden. Als ich fertig geduscht hatte stellte ich das Wasser aus, wickelte mich in mein Handtuch und ging, nachdem ich die getragenen Sachen in die Wäsche geworfen hatte, in mein Schlafzimmer, wo ich mir frische Schlafsachen aus dem Schrank nahm.

 „Clara? Bist du da?", rief meine Schwester ins Haus. „Ja, bin ich!", gab ich von oben zurück und ging barfuß zur Treppe. „Komm mal runter! Ich will dir etwas zeigen!", meinte sie mit einem frechen Lächeln. „Ich möchte mich jetzt aber gerne hinlegen, Larita. Ich bin müde!", murrte ich, dennoch überwog meine Neugierde und ich lief doch die Treppe hinunter.

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