Zwei

7.3K 302 29
                                    


Zora legte ihren Klausurbogen auf den Stapel auf dem Pult. Fertig! Sie war fertig! Das hier war ihre letzte Klausur gewesen. Jetzt stand nur noch ihre mündliche Prüfung an, vorausgesetzt sie musste in keine Nachprüfung; und Geschichte würde machbar sein, vor allem mündlich. Sie verstand sich gut mit Frau Knapp und kannte den Themenschwerpunkt ihrer abschließenden Prüfung bereits.

Natürlich nicht offiziell, aber im Endeffekt kannten doch immer alle Schüler, die nicht von totalen Arschlöchern geprüft wurden ihr Themengebiet schon vorab. Die ganz Glücklichen hatten sogar schon einen Hinweis erhalten, welcher konkrete Text 'in der engeren Auswahl für die Prüfung stand'.

Somit hatte Zora den harten Teil des Abistresses hinter sich und vor ihr lag ein Sommer ohne Aufgaben oder Verantwortung. Das war natürlich aufregend, denn es gab endlos viele Möglichkeiten, aber irgendwo auch angsteinflößend. Sie war jetzt 19 und musste eigenständig entscheiden, was sie machen wollte.

Studieren, ein FsJ, eine Ausbildung, ein duales Studium, ein Auslandsjahr, etc. Sie konnten ab jetzt nicht mehr einfach in die Schule gehen, ein paar Klausuren schreiben und hatten damit ihren Soll erfüllt. Mit dieser neuen Verantwortung war Zora gelinde gesagt ziemlich überfordert. Ihr einziger Trost war es, dass es einem Großteil ihres Jahrgangs ähnlich zu gehen schien; ein schwacher Trost.

Sie wussten einfach alle überhaupt nicht, was sie mit ihrer Zukunft anstellen sollte. Doch ihre beste Freundin Liv stellte natürlich die Ausnahme da. Mit ihrer traumhaften Figur und den annähernd hüftlangen blonden Haaren wurde sie zwar von fast allen als die dumme Blondine abgetan, aber Zora wusste, dass weit mehr hinter der Fassade steckte. Auch wenn Liv nicht wirklich gegen dieses Image ankämpfte, so hatte sie doch bereits letzten Winter eine ziemlich eindrucksvolle Mappe fertig gestellt und sich an zahlreichen Kunsthochschule für verschiedene Studiengänge, die sich alle um das Thema Mode drehten beworben. Und was noch viel wichtiger und eindrucksvoller war. Sie hatte schon eine Zulassung und mehrere Einladungen für Assessmentcenter und Bewerbungsgespräche erhalten. Damit war sie mit ihrer Zukunftsplanung weiter als 95% ihrer Mitschüler. Nur Nat, Zoras bester Freund war ähnlich weit. Er war schließlich Jahrgangsbester und somit standen ihm alle Türen offen. Er würde Pharmazie studieren und dann die Apotheke seines Vater übernehmen.

Man, sie hatte sich in der Beziehung echt die falschen Freunde ausgesucht, oder besser gesagt die Richtigen; je nachdem, wie man das interpretieren wollte. Zoras Blick viel auf Liv, die mit ihr zusammen den Deutschleistungskurs gehabt hatte und somit auch im selben Prüfungsraum geschrieben hatte.

Innerlich die Augen verdrehend begutachtete sie Livs Outfit: weißes Sommerkleidchen mit Spitzenelementen, zehn Zentimeter hohe Wedges und das perfekte dezente Sommer-Make-up, inklusive Highlight und Kontur. Nur Liv würde einen derartigen Aufwand für das Schreiben einer Prüfung betreiben. Zora dachte daran, wie sie heute Morgen einfach ihre weißen Chucks, die dunkelgraue Röhrenjeans, die aber bequem wie eine Leggings war, ein weißes Tanktop und eine Kapuzenjacke angezogen hatte. An Make-up hatte sie gar nicht erst einen Gedanken verschwendet. Warum auch, es gab niemanden hier, den sie beeindrucken wollte.

Das Groteske war, dass Liv ebenfalls niemanden beeindrucken wollte, einmal ganz abgesehen davon, dass sie selbst in Jogginghose und Schlabberpulli alle anwesenden Mädels in die Tasche gesteckt hätte.

Die meisten Jungs aus der Stufe waren noch unreife Vollidioten und selbst bei den halbwegs vernünftigen und erträglichen, mit denen sie auch oberflächlich befreundet war, hatte sie eindeutig kein Interesse.

Das war auch besser so, denn Liv hatte nicht den besten Ruf, da ihre Mutter eine zweifelhafte Frau war. Diese war ein in die Jahre gekommenes C-Promi-Sternchen, die früher einmal in in irgendeiner Soap mitgespielt hatte und nun mehrere Beauty-OPs später mit einem reichen und 30 Jahre älteren Mann zusammen lebte; doch Liv strahlte die üble Nachrede einfach weg.

Gerade unterhielt sie sich mit Steven, der war einer von den ganz Coolen: Longboard-Fahrer und immer eine große Klappe, dabei jedoch zugegebenermaßen ziemlich unterhaltsam und humorvoll. Wahrscheinlich ging es um die große Party bei Peter am nächsten Freitag. Dann würden sie alle endlich mit den schriftlichen Prüfungen fertig sein und das musste natürlich gebührend mit einer semi-legalen Fete in einer Scheune auf einem Bauernhof im Nirgendwo gefeiert werden.

Liv verabschiedete sich gerade von Jonas, der ähnlich wie seine Freunde, auch als sie sich umdrehte seinen Blick nicht von ihr lassen konnte, und eilte zu Zora herüber, die dank ihrer pseudophilosophischen Tagträumerei noch dabei war ihre Klamotten einzupacken.

Zora beneidete Liv schon ein bisschen, denn selbst wenn sie auf charakterlicher Ebene nichts von ihr hielten, so vergötterten sie Liv doch alle für ihr Aussehen und ihr ungezwungene Art. Sicherlich, Zora war alles andere als hässlich, so große Selbstzweifel hatte sie dann auch nicht, aber sie war eben nicht viel mehr als Durchschnitt. Hatte fünf-sechs Kilo mehr auf den Rippen als die superschlanke Liv, gewöhnliche braune Augen, statt strahlend Hellblauen und einfach nur dunkelbraune, fast schon schwarze lange Haare. Insgesamt also eher unspektakulär.

„Los komm, beeil dich. Ich habe Hunger und ich will noch Pizza holen. Du weist doch, wie meine Mutter ist.", riss Liv sie aus den Gedanken. Zora verkniff sich einen zynischen Kommentar, griff nach ihrer Tasche und folgte Liv zu deren Auto. Einem roten Mini-Cabriolet mit cremefarbenen Ledersitzen. Der reiche Macker ihrer Mutter hatte eben auch Vorteile. Liv zückte ihr neues Iphone. „So, was willst du?". Nachdem sie die Pizzen bestellt hatte, drehte sie die Musik voll auf. One Direction – History. So sehr Zora diese Musikwahl auch verurteilte, musste sie doch insgeheim zugeben, dass der Sound in der warmen Mittagssonne mit offenem Verdeck Spaß machte.

fragile (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt