Sechsundsiebzig

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Zora hatte in ihrem ganzen Leben nicht einmal in Betracht gezogen, dass sie so ticken könnte. In ihrem Umfeld gab es keine einzige Frau, die 'anders' war, zumindest wüsste sie von keiner. Ihr fiel ein klischee-mäßig schwuler Friseur ein, aber das war es dann auch schon. Sämtliche Dinge, die sie spontan mit einer homosexuellen Frau assoziieren würde, trafen absolut nicht auf sie zu.

Zora griff nach einer ihrer langen Haarsträhnen und drehte sie im Licht. Sie liebte ihre langen Haare, sie waren mit das, was Zora optisch am meisten an sich mochte. Sie hätte sie für kein Geld der Welt abgeschnitten. Wenn sie sich jedoch, und sei es nur ganz kurz und rein hypothetisch, erlaubte diese Möglichkeit anzudenken, dass sie vielleicht auf Frauen stand, schien vieles Sinn zu ergeben: das sie sämtliches Jungs-Dramen nie nachvollzogen hatte oder dass sie noch nie wirklich für irgendwen geschwärmt hatte. Sie hatte sich immer gesagt, dass sie anspruchsvoll war und auf den Richtigen wartete. Nur war sie mittlerweile fast zwanzig und sie war noch keinem Mann begegnet, dem sie auch nur für einen Moment verfallen wäre.

Seltsamerweise machte sich Erleichterung bei ihr breit, was eigentlich vollkommen irrational war, schließlich waren solche Leute nicht gleichberechtigt und wurden selbst in unserer liberalen Gesellschaft noch häufig schief angeschaut. All dies war nichts, was man sich wünschte. Aber es wäre eine Erklärung dafür, dass Zora anders tickte, denn sie hatte schon länger das Gefühl, dass sie irgendwo von der Norm abwich. Es hieß gleichzeitig, dass es da draußen in der Welt Menschen gab, die genauso tickten wie sie. Eine Gesellschaft, mit der sie Gemeinsamkeiten hatte. Das sie nicht alleine war mit ihrer Verwirrung. Sie startete ihre PC und öffnete YouTube. Das Video hatte sie schnell gefunden.

Als sie es damals das erste Mal geschaut hatte, war sie vor allem von Verständnis geprägt gewesen, hatte die Geschichte von einem augenscheinlich neutralem und unbeteiligten Punkt aus versucht nachzuvollziehen. Sie war ein gebildetes, tolerantes Mitglied der Gesellschaft gewesen, dass sich bemühte mit Minderheiten mitzufühlen und offen für Neues war. Zumindest hatte sie das gedacht. Jetzt, als sie das Video ein zweites Mal sah, sah sie die Gemeinsamkeiten zwischen sich, und diesem Mädchen, Lucy: Das fehlende echte Interesse an Jungs und das fehlende Verständnis für das Verhalten von Freundinnen. In den nächsten drei Stunden klickte sie sich durch Coming Out Video nach Coming Out Video. Nachdem sie sich diesen Gedankengang erst einmal erlaubt hatte, fand sie in jedem dieser Videos eine kleines Stückchen von sich selbst wieder. Einen Satz, oder eine Passage, die sie eins zu eins auf sich übertragen konnte. Was aber fast noch viel mehr half, war die bloße Anzahl der Clips, dass so viele Menschen ein solches Video gedreht hatten und das all diese Menschen dabei schrecklich normal wirkten. Sie waren dick, dünn, geschminkt, ungeschminkt, schwarz, weiß, Latinos. Sie waren teilweise außergewöhnlich attraktiv, andere wiederum wirkten total durchschnittlich. Zusammengefasst: Zora hätte bei 90% der Menschen nie damit gerechnet, dass sie nicht hetero waren. Völlig übermüdet fiel sie um kurz nach drei ins Bett.

Am nächsten Morgen ging Zora zunächst ein große Runde mit Luna; und während sie gestern Abend noch mit ihrer existentiellen Selbstfindungskrise beschäftigt gewesen war, wanderten ihre Gedanken nun wieder zu Jane. Zora war sauer auf sich selbst, dass das passierte, aber sie konnte absolut nichts dagegen tun; und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Bedürfnis ihr Gefühlsleben mit Liv zu besprechen, sich bei einer Freundin Rat zu holen. Sie wollte sich bei Liv auskotzen, um am Ende die Bestätigung zu erhalten, wie bescheuert Janes Verhalten gewesen war und dann vielleicht Frustshoppen zu gehen.

Doch das würde nicht passieren. Zora wüsste überhaupt nicht, wie sie dieses Gespräch beginnen sollte, immerhin hatte sie die vergangen beiden Jahre immer mal wieder vorgegeben, auf irgendeinen Typen zu stehen, einfach, einfach um eine Antwort auf die nicht abbrechenden Fragen nach ihrem Schwarm zu haben. Dabei hatte sie zwar nicht bewusst gelogen, sondern immer relativ reflexartig nach willkürlichen Kriterien einen Kandidaten ausgepickt, aber dennoch schien es ziemlich merkwürdig jetzt so drastisch umzuschwenken.

Liv war alles andere als homophob, im Gegenteil, sie hatte schon mehrfach den klischeeartigen Wunsch nach einem schwulen besten Freund geäußert. Aber das waren immer nur hypothetische Überlegungen, die sich um Promis oder Seriencharaktere drehten. Nie um reale Menschen, mit denen man regelmäßig und auf persönlicher Ebene interagierte. Es war eine vollkommen andere Sache, wenn die beste Freundin auf Frauen stand. Liv und Zora waren super vertraut, Zora hatte Liv schon oben ohne gesehen, sie hatten in einem Bett geschlafen und die intimsten Details ausgetauscht. All diese Dinge, die beste Freundinnen eben taten. Es schien fast schon Verrat zu sein, sich nach all dem erst bewusst zu werden, dass man auf das eigene Geschlecht stand, selbst wenn sie Liv nie auf diese Weise wahrgenommen hatte. Liv war ihre beste Freundin, nur das und nicht mehr.


fragile (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt