Einhunderteinundzwanzig

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Alles, dachte Zora. Einfach alles. „Wieso hast du nichts gesagt?", war jedoch die Frage, die dann schließlich ihren Mund verließ. Lose hing sie in der Luft zwischen ihnen. Ihre Mutter seufzte auf. „Was hätte ich denn sagen sollen?"

Eine rhetorische Gegenfrage. Mit so ziemlich jeder denkbaren alternativen Antwort hätte sie Zora weniger erzürnt. Denn selbst wenn ihre Mutter möglicherweise rein rational alles richtig gemacht hatte, so fühlte Zora sich doch verraten. Sie standen sich doch so nahe und bis gerade eben hatte sie nicht einmal gewusst, ob ihr Vater sich überhaupt ihrer Existenz bewusst war. Im Gegenteil, sie war immer davon ausgegangen, dass das nicht der Fall war.

„Das er von mir weiß. Wer er ist. Warum er nicht offiziell zu der Vaterschaft steht und gleichzeitig finanzielle Vorkehrungen für mich getroffen hat. Das er anscheinend auch in der Vergangenheit schon Geld gezahlt hat, ich ihm also nicht ganz egal bin." Den letzten Satz schrie Zora ihrer Mutter entgegen. Diese zuckte merklich zusammen, bevor sie nach einer kurzen Pause antwortete. „Er wollte keinen Kontakt. Wir waren uns damals sehr schnell einig, dass es besser für alle Beteiligten wäre, wenn er keine Rolle in deinem Leben spielt. Dann hat er sich vor zwei Monaten bei mir gemeldet, seine Meinung geändert. Du seist jetzt erwachsen und hättest ein Recht ihn kennenzulernen.", „Besser für alle Beteiligten?", echote Zora zynisch. „Dann hat er auch nichts gezahlt in den letzten 19 Jahren?", „Doch.", bestätigte ihre Mutter kleinlaut. „Das ergibt doch keinen Sinn!", stellte Zora kopfschüttelnd fest. „Wieso sollte er uns finanzieren, wenn er nicht mal als Vater eingetragen ist?" Diesmal war die Pause zu lang, als dass ihre Mutter lediglich nach einer passenden Formulierung suchte. Sie zögerte ganz eindeutig, da sie mit dem Inhalt als solchem haderte.

„Das war Grundlage der Vereinbarung. Ich benenne keinen Vater und im Gegenzug unterstützt er uns finanziell, ohne irgendwie mit dir in Kontakt zu treten." Zora keuchte erschrocken auf. „Dann hast du ihm den Umgang mit ihm untersagt?" Damit brach ihre Welt endgültig zusammen. Das ihre Mutter der Horror in die Augen geschrieben stand schien die Sache zu besiegeln, auch wenn deren Antwort die Aussage noch zu entschärfen versuchte: „Er wollte nie eine Vaterrolle einnehmen, hat ohne Umschweife jedes Recht auf eine Beziehung mit dir aufgegeben." Zora starrte ihre Mutter an, versuchte zu verstehen, doch alles schien nur noch mehr Fragen aufzuwerfen, noch weniger Sinn zu ergeben. Zaghaft streckte ihre Mutter eine Hand nach Zora aus, griff nach ihrer Schulter. „Dein Vater und ich, wir... Wir hatten keine gemeinsame Zukunft, aber er war sich seiner Verantwortung bewusst, zumindest auf seine Art. Er war damals im Begriff eine andere zu heiraten, konnte kein uneheliches Kind gebrauchen. Ich wollte nicht, dass meine Tochter auch nur in der Nähe seiner Familie aufwächst, also haben wir uns so geeinigt. Glaub mir, ich wollte nur das Beste für dich!" Die Miene ihrer Mutter wurde traurig. „Ich wollte dich nicht unnötig belasten. Aber ich schätze jetzt bist du alt genug, kannst dir dein eigenes Bild machen." Zora griff nach der Hand, die auf ihrer Schulter lag und entfernte sie sachte, aber bestimmt. Sie brauchte Raum zum Denken, um das alles zu verarbeiten. „Ich muss... Das ist alles ein bisschen viel auf einmal.", damit stürzte sie aus der Küche.

Zora wusste nicht, wo ihr der Kopf stand. Wollte sie das überhaupt? Einen Vater? Sie war die letzten 19 Jahre eigentlich ziemlich gut ohne ihn ausgekommen, hatte sich selbst mehr oder weniger verboten über diesen Mann nachzudenken. Seine Existenz ignoriert.

Als kleines Mädchen hatte sie zwar manchmal davon geträumt, dass er eines Morgens vor ihrer Tür stand, hatte sich einen asiatischen Mann, die Arme voller Geschenke ausgemalt. Das war das Einzige, was sie sicher wusste, dass er irgendwie asiatisch war, da musste sie nur in den Spiegel schauen. Die Träumereien hatten dann aber irgendwann aufgehört, sie war schließlich auch ohne Vaterfigur ganz gut klargekommen.

Doch nun war ihr schönes Kartenhaus dank eines einzigen Briefs zusammengebrochen. Sie musste sich den existentiellen Fragen stellen.

fragile (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt