Zweiundsechzig

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Als sie zu Hause ankamen war Jane irgendwie zu aufgekratzt zum Schlafen. Zora schien es ähnlich zu gehen und somit setzten sie sich, wie am Vorabend noch auf die Dachterrasse. Nachdem die Wirkung des Alkohols langsam abklang begann Jane die Kälte zu spüren, schließlich war es erst Mai und Mitten in der Nacht. Die kurze Hitzewelle der letzten Woche war längst wieder abgeklungen. Zora konnte es nicht anders gehen mit ihrem Kleid, dass die Unterschenkel und Knie völlig frei ließ. Also ging Jane noch einmal nach Drinnen, um eine Decke zu holen. Dann ließ sie sich wieder neben Zora nieder und warf die Decke über ihre Beine. „Hier. Sonst erfrierst du noch.", „Oh, danke.", bedankte Zora sich, rutschte näher an Jane heran, sodass sich ihre Knie berührten und zog die Decke weiter zu ihrem Oberkörper hoch. „Wir können aber auch rein gehen, wenn es dir zu kalt ist.", erwiderte Jane mit einem Lachen.

„Nein, nein. Ich bin gerne hier draußen. Diesen Ausblick muss man doch genießen.", antwortete Zora und kuschelte sich weiter in die Decke. Damit hatte sie recht, dachte Jane. Sie selbst tat das viel zu wenig. Von der Terrasse aus blickte man zwar nicht gerade auf die Wolkenkratzer New Yorks, aber die Lichter Düsseldorfs bei Nacht, waren definitiv auch hübsch anzusehen. Dieses Jahr hatte sie noch gar nicht hier draußen gesessen, abgesehen vom gestrigen Abend natürlich. Jane nickte. „Okay." Lächelnd blickte sie Zora an. Diese drehte sich ebenfalls zu ihr um und erwiderte den Blick. „Darf ich dich mal was fragen?", kam es dann etwas unvermittelt von ihr. „Klar.", antwortete Jane sofort und ließ ihren Blick suchend über Zoras Gesicht schweifen, in der Hoffnung einen Hinweis auf die Natur der Frage zu erhalten. Doch Zoras Miene verriet nichts und war in der Dunkelheit auch nur schwer auszumachen. Sie schwieg zunächst, als würde sie ihre Formulierung noch einmal überdenken. „Warum hast du mich heute mitgenommen?" Nachdem Jane nicht umgehend antwortete schob sie noch hinterher: „Ich meine ich bin wirklich gerne mitgekommen und habe den Abend total genossen. Aber warum ich?", „Warum denn nicht?", konterte Jane das Gesagte denkbar geistlos mit einer völlig inhaltslosen Gegenfrage. Dabei wusste sie natürlich sehr genau, worauf Zora hinaus wollte, sie hatte sich diese Frage ja bereits mehrfach selbst gestellt.

Sie kannte die Antwort nicht, konnte zumindest nichts sinnvolles formulieren. Sie hatte ihr Bauchgefühl entscheiden lassen und bereute diese Entscheidung kein bisschen. Im Gegenteil, sie war ziemlich froh diese Kette von irrationalen, für sie untypischen Entschlüssen getroffen zu haben. Denn dank dieser saß sie jetzt hier mit Zora. Diese unternahm gerade den Versuch auf ihre denkbar blöde Gegenfrage angemessen zu antworten: „Weil ich prinzipiell nur eine dahergelaufene, mittelmäßige Abiturientin bin. Verdammt viele Menschen wären da heute Abend gerne hingegangen, aber du hast mich mitgenommen. Weshalb?" Zora blickte sie aus fragenden Augen heraus an. Jane rückte die Steppdecke auf ihren Knien zurecht, um sich dann erneut zu Zora umzudrehen, was ihre Anordnung der Decke natürlich wieder völlig zerstörte.

„Du unterschätzt dich! Dir wurde heute Abend mehr oder weniger ein Stipendium vom Arbeitgeberverband zugesichert, das passiert mittelmäßigen Abiturientinnen glaube ich eher selten.", erwiderte sie etwas lahm. „Naja, zugesichert hat er mir das ja noch nicht. Angeboten, ja. Aber das heißt ja lange noch nicht, dass ich das letzten Endes auch bekomme.", widersprach Zora. „Glaub mir, deine Chancen sind ziemlich gut.", bestand Jane auf ihre Meinung. Zora schien darüber nachzudenken, hakte dann aber doch noch einmal weiter nach. „Ja, aber wieso tun sie das? Weshalb hast du mir da vor dem Krankenhaus da deine Visitenkarte gegeben? Ich habe mich heute ja mit Max unterhalten, und der hat mir erzählt, wie aufwendig es für ihn war diese Praktikum zu bekommen, und der studiert schon mehrere Semester. Wieso hast du mir diese Möglichkeit einfach so spontan eröffnet?" Jane wägte ab und hatte noch genügend Alkohol im Blut, um dann ehrlich zu antworten. Auch wenn diese Antwort total unprofessionell war. „Ich mochte dich einfach sofort. Du warst so einfühlsam mit meiner Mutter, vermutlich hilfreicher, als ich es je sein werde. Da wollte ich mich revanchieren. Außerdem braucht es mehr Menschen wie dich. Du bist intelligent, hast deinen Standpunkt, aber bist dabei nicht egozentrisch, sondern freundlich und denkst an andere. Das hat mich beeindruckt." Jetzt konnte sie das nicht mehr zurück nehmen, es war gesagt. Ein Teil von ihr brach in Panik aus; sie hatte zu viel Preis gegeben, zu viel gesagt. Dabei entsprach alles der Wahrheit und vermutlich war genau das der Punkt, der so ungewohnt war. Sie meinte das ehrlich, sie mochte Zora und war deshalb simultan froh es ausgesprochen zu haben. Unsicher erwartete sie die Reaktion der Teenagerin neben sich. Diese hatte sichtlich nicht mit dieser ehrlichen, direkten Antwort gerechnet und wurde verlegen. „Da übertreibst du aber, und ich habe nur versucht zu helfen, das hätte jeder getan. Und ich kann mir kaum vorstellen, dass du nicht einfühlsam bist.", erwiderte Zora mit abgewandtem Blick. Jane reagierte nicht sofort, und somit fuhr sie fort: „Das muss schrecklich sein, wenn die eigene Mutter sich so selbst verliert. Ich will mir das gar nicht vorstellen. Man sitzt einfach nur hilflos daneben. Natürlich überfordert es da einen klaren Kopf zu bewahren. Es ist nur menschlich, dass du Schwierigkeiten hast damit umzugehen. Als Außenstehende kann ich da natürlich leicht reden."

fragile (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt