Neunundsechzig

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Zora schloss die Augen und atmete tief ein. Das einzig präsente Geräusch war das Knirschen ihrer Schuhe auf dem Waldboden, abgesehen davon war nur das Rauschen der Bäume im Wind zu hören. Dazu roch es angenehm erdig-frisch. Wie jedes Mal, wenn sie in einem Wald war, wunderte sie sich, warum sie das nicht viel häufiger tat. Jane hatte schon recht, wenn sie sagte, dass man das genießen musste. Zora blickte zu ihr hinüber. Sie sah wie immer absolut perfekt aus. Die blonden Haare umrahmten das Gesicht wundervoll, obwohl sie in dem cremefarbenen Wollmantel etwas fehl am Platz wirkte. Zora blickte an sich selbst hinunter. Das war wohl das erste mal diese Woche, dass sie für irgendetwas passender gekleidet war als Jane. Der dunkelgrüne Parker war doch deutlich robuster als der edle Mantel.

Ungefähr eine Viertelstunde später verließen sie die Wanderwege und begannen einfach querfeldein die letzten Meter den Hang hinauf zu laufen. Die Steigung war mittlerweile beträchtlich, sodass man schon fast von Klettern sprechen konnte. „Wie sicher bist du dir, dass wir richtig sind?", fragte Zora etwas außer Atem. Jane, die ein paar Meter oberhalb von ihr war, drehte sich zu ihr um. „Ziemlich. Jetzt komm, wir sind fast da." Mit einem leisen Stöhnen machte Zora sich an den restlichen Aufstieg, wurde dann aber auch nach den letzten Metern belohnt. Man konnte tatsächlich über den gesamten Ort blicken. „Oh...wow!", war alles, was sie heraus bekam. Jane lächelte sie breit an. „Siehst du, das muss man gesehen haben, wenn man hier wohnt."

Der kleine Berg, auf dem sie standen war vermutlich kaum mehr als 300m hoch, aber doch hoch genug, sodass der kleine Ort scheinbar nur noch aus Lichtern die aus kleinen Klötzchen schienen bestand. Darum herum sah man nur noch Felder und Wälder, in der Ferne vereinzelte Bauernhöfe. Der Anblick strahlte eine scheinbar zeitlose Ruhe aus, fast schon mehr wie ein wunderschönes Ölgemälde, als wie die Realität. Sie liefen noch ein Stück weiter, bis ihnen gar keine Bäume mehr die Sicht versperrten. Am Rande der kleinen Lichtung lag ein umgekippter Baumstumpf, auf dem Jane sich nieder ließ, ohne sich weiter um die Reinlichkeit ihres wahrscheinlich sündhaft teuren Mantels zu kümmern. Nachdem sie Zora ungeduldig herangewinkt hatte, nahm diese neben ihr Platz. Unter ihnen befand sich ein Meer von Tannen, die die der Stadt zugewandte Seite des Berges säumten und den Hang entlang in die Schwärze hinab fielen. Zora saugte den nun vollkommen uneingeschränkten Ausblick auf ihre Heimatstadt in sich auf. Von hier oben sah sie wunderschön aus. Idyllisch, fast schon märchenhaft. „Das ist... Das ist der reine Wahnsinn. Wie hast du diese Stelle gefunden?", versuchte sie relativ unelloquent ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Jane schmunzelte. Auch sie hatte ihren Blick in die Ferne gewandt und schien im Augenblick zu schwelgen. „Ich habe danach gesucht."

Jane merkte, wie Zora sie fragend von der Seite anblickte und löste schließlich den Blick von der Landschaft, um ihn auf das Mädchen neben sich zu richten, das dort so dicht neben ihr saß und nach Rosen duftete. Wie genau waren sie noch einmal hier gelandet? An diesem Platz, an den Jane bisher immer nur alleine gekommen war, an dem sie beschlossen hatte Architektin zu werden; und nicht nur irgendeine, sondern eine der Besten. An diesem Platz, an dem sie seit Jahren nicht gewesen war.

fragile (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt