Sechs

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Jane rührte mit ihrem Löffel durch ihren Kaffee, um bloß nicht aufschauen zu müssen. Ihre Mutter philosophierte derweil über die Holzart der Tische und Stühle. Es war einfach so verdammt traurig. Sie würde ihrer Mutter so gerne helfen, doch ihr waren schlichtweg die Hände gebunden. Diese einst so aufgeweckte und kreative Frau geistig derart verfallen zu sehen war wie ein immer wiederkehrender Messerstich.

Auch wenn sie sich in eine vollkommen andere Richtung als ihre Mutter entwickelt hatte und sie auch insgesamt eher wenige Gemeinsamkeiten hatten, so hatte sie ihre Mutter doch immer für ihren wachen, phantasievollen Verstand bewundert.

Hinzu kam, dass sie einfach nicht wusste, wie sie mit ihrer Mutter umgehen sollte. Seit es mit ihrer Mutter bergab ging hatte sie immer die Arbeit vorgeschoben und ihre Eltern eigentlich nur noch an Geburtstagen und zu Weihnachten gesehen. Nach der Nachricht des Unfalls ihres Vaters, war sie dann jedoch natürlich sofort zurück nach Winterbaum, in die Stadt ihrer Kindheit gefahren und sah sich nun gezwungen ihre Berührungsängste zu überwinden. Glücklicherweise war ihre Mutter zwar in Vollzeitpflege, aber schließlich war Jane ja nun einmal hier und konnte genauso gut ein paar Stunden mit ihrer Mutter verbringen. Außerdem hatte sie ein schlechtes Gewissen dabei, ihre Mutter völlig Wildfremden zu überlassen und ihr Vater lag ja erst einmal im Krankenhaus. Sie war direkt gestern Morgen zu ihm gefahren. Es war nichts dramatisches, 'nur' ein Oberschenkelhalsbruch, aber das war mit fast siebzig sicherlich auch kein Zuckerschlecken mehr.

Völlig in Gedanken versunken war ihr gar nicht aufgegangen, dass ihre Mutter ihr offenbar eine Frage gestellt hatte. Zumindest blickte sie Jane erwartungsvoll an. "Ehm...entschuldige?" Gott, war sie eine grausige Tochter. Zum Glück ließ ihre Mutter sich nicht aus dem Konzept bringen und nahm ihren Redefluss praktisch sogleich wieder auf. Jane versuchte ernsthaft zu folgen, aber ihre Mutter war schon wieder gänzlich abgedriftet und schien sich mit ihrem vor über zwanzig Jahren verstorbenem Bruder zu unterhalten. So sehr sie sich auch bemühte, Jane war es ein Rätsel, wie man es schaffen sollte sich mit einer Demenzkranken zu unterhalten. Sie wurde ja schon bei gefühlt 90% des inhaltslosen Geplänkels der geistig klaren Menschen wahnsinnig.

Sie hatte einfach gerne alles im Griff, ihr oberstes Gebot war Effizienz und das ließ sich nun einmal mit einem zehn-minütigen Gespräch über gehäkelte Tischdeckchen nicht vereinbaren. Sie hatte ja noch nicht einmal etwas für Deko übrig. Verdammt, vermutlich war die Kellnerin eben einfühlsamer gewesen als sie in den gesamten letzten fünf Jahren. Ihre innere Ruhe und Gelassenheit war fast schon greifbar gewesen und hatte sich beinahe sofort auf ihr Mutter übertragen. Unabhängig davon, was für verrückte Sachen ihre Mutter sonst erzählte; ihr Vater eine Affaire mit Frau Söhnchen, der Cafébesitzerin?! - vollkommen abstrus.

Naja, soviel zu ihrer Idee, dass es sicherlich schön wäre mal wieder in die Alte Mühle zu gehen. Nur gut, dass Frau Söhnchen scheinbar nicht da war, sonst wäre ihre Mutter jetzt wohlmöglich vollkommen aufgelöst. Die Bedienung musste sich auch ihren Teil denken, schließlich war es ziemlich offensichtlich, wie überfordert Jane mit der Situation war. Sogar unfähig ihrer Mutter ein simples Getränk zu bestellen.

Kurze Zeit später kam die Kellnerin wieder an ihren Tisch. „Bei ihnen soweit alles in Ordnung?" Jane blickte auf. Das Mädchen lächelte sie freundlich an. Jane war kurz erstaunt. Das Lächeln wirkte aufrichtig und ehrlich, nicht wie zur Fassade aufgesetzt, was nach dem Vorangegangenen durchaus verständlich gewesen wäre. Doch sie schien weder angenervt, noch nervös zu sein, sondern einfach nur hilfsbereit. Jane griff fahrig nach der Karte, die auf der Mitte des Tischs stand. „Vielleicht noch Kuchen?" Da räusperte sich die Kellnerin. Jane blickte erneut zu ihr auf. „Ich bringe ihnen wirklich gerne noch Kuchen, aber meine Chefin müsste jeden Moment kommen." Sie zog nachdrücklich die Augenbrauen hoch. „Möglicherweise wäre es besser, es heute bei Kaffee und Tee zu belassen?" Jane stockte. „Da haben sie vermutlich Recht." Womit hatte sie nur eine derart aufmerksame Kellnerin verdient? So etwas gab es wirklich nur auf dem Land. In so ziemlich jeder, der überregionalen Caféketten in den Großstädten hätte man sie längst postwendend rausgeschmissen. Andererseits würde ihre Mutter da auch nicht der Cafébesitzerin eine Affäre mit ihrem Mann andichten.

„Dann bringe ich ihnen schon mal die Rechnung?", „Ja danke, das wäre nett."

fragile (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt