Vierundsechzig

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Zora blickte in das makellose Gesicht, das nur wenige Zentimeter entfernt von ihrem eigenen war. Die klare, reine Haut. Der perfekt Lidstrich, der die grünen Augen umrahmte, die nur leicht vom Licht aus dem Wohnzimmerfenster beleuchtet wurden und die blutrot geschminkten Lippen. Die perfekte Partie für den verboten erfolgreichen Geschäftsmann Rupert Loh, der sehr zu Zoras Missfallen, nicht nur brillant in seiner Branche war, sondern auch noch charismatisch war und Humor hatte. Dazu kam natürlich noch sein imposantes Erscheinungsbild. Weshalb war sie nur so gehässig? Sie sollte sich für Jane freuen und außerdem, was betraf sie das Ganze überhaupt? Das waren zwei erwachsene, sehr erfolgreiche Menschen, da war ihre Meinung wohl kaum gefragt.

Aber dennoch saß Jane hier mit ihr auf dieser Dachterrasse, wie schon am Vorabend, und das, obwohl sie sicherlich noch mit Rupert in diesem traumhaften Wintergarten sitzen könnte. Doch Zora unterbrach ihre abstrusen Gedankengänge. Jane war einfach nur höflich, sie hatte Zora ja schlecht komplett ignorieren können, um sich mit Rupert zu vergnügen. Außerdem hatten Jane und Rupert ein gemeinsames Abendessen ins Auge gefasst. Es war also recht wahrscheinlich, dass die Beiden vielleicht bald schon spruchreife wären. Sie passten ja auch zusammen, erinnerte Zora sich selbst erneut. Und doch musterten diese warmen grünen Augen gerade Zora und niemanden sonst. Das Gesprächsthema schien beendet. Keiner nahm den Faden wieder auf und so starrten sie sich einfach nur an. Die Distanz zwischen ihnen wäre binnen eines Sekundenbruchteils überbrückt.

Zora unterbrach die Verbindung schließlich, indem sie den Blick löste. „Gerne, darum bitte ich. Dann musst du mir aber auch von dem Abendessen mit Rupert erzählen.", knüpfte sie doch noch an das zuvor Gesagte an. Für einen winzigen Augenblick hatte sie den Eindruck Jane wäre enttäuscht, oder zumindest erstaunt über den abrupten Themenwechsel. Doch dann hoben sich Janes Mundwinkel sehr schnell und ihre Miene wurde fast schon spöttisch. „Naja, es muss sich erst noch zeigen, ob es da dann etwas Nennenswertes zu berichten gibt. Aber ich werde dich gegebenenfalls natürlich auf dem Laufenden halten."

Zora ließ das Telefon neben sich aufs Bett gleiten. Ein Blick auf das Display verriet ihr, dass das Gespräch über eine Stunde gedauert hatte. Es hatte gut getan die vergangenen vier Tage mit Liv aufzuholen. Diese hatte jedes noch so kleine Detail hören wollen; und doch hatte Zora ihr nicht alles erzählt. Das war keine bewusste Entscheidung gewesen, ihr hatten schlicht und ergreifend die Worte gefehlt, das Ende des gestrigen Abend zu beschreiben. Was war das gewesen? Die Komplimente von Jane. Die scheinbar unabsichtlichen Berührungen. Dieser intime Blickkontakt, den sie selbst so abrupt abgebrochen hatte. Was wäre danach gekommen? Sie hatten ja Beide einiges an Alkohol intus gehabt.

Zora schüttelte den Kopf. Sie dachte viel zu viel nach und bauschte eine Reihe von harmlosen Zufällen auf. Sie versuchte da unnötige Dinge hinein zu interpretieren. Die eigentliche Frage war vermutlich, was genau sie da hinein interpretieren wollte und vor allem wieso sie das wollte. Aber auch auf diese Fragen hatte sie keine plausiblen Antworten. Heute morgen beim Frühstück und während der Heimfahrt war alles normal, locker und entspannt gewesen. Zora hatte sich durch ein dickes Infoheft Statik geblättert. Dieses hatte sie mehr zufällig bei der Studienberatung der Uni mitgegriffen, war im Nachhinein aber froh, dass sie das getan hatte. Nach dem Gespräch mit Herrn Niggenbölling am Vortag war sie mehr und mehr davon überzeugt, dass sie sich zumindest einmal detailliert mit dem entsprechenden Studiengang auseinander setzten sollte. Sie hatten außerdem die Themen der Tageszeitung, die Jane beim Frühstücken gelesen hatte kurz andiskutiert und waren anschließend über einen Artikel, der von Beyonces Unterstützung des Clinton-Wahlkampfes berichtete, auf Musik gekommen. Deshalb hatten sie auch einen Großteil der Heimfahrt schweigend verbracht, weil sie 'Bon Iver' von Bon Iver gehört hatten, da sie Beide die Band mochten, Jane aber noch nie das ganze Album gehört hatte.

fragile (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt