Einhunderneunzehn

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Der ganze Sommer hatte seinen Glanz verloren. Liv und Nat planten gerade einen verdammten Kurztrip nach Paris. Klischeehafter ging es doch nicht. Die Stadt der Liebe. Es hatte die Beiden wirklich voll erwischt. Das Nat eine versteckte romantische Ader hatte überraschte sie ja nicht wirklich. Aber Liv? Damit hatte sie eher weniger gerechnet, vor allem nicht in dem Ausmaß. Die beiden sprangen vom Picknick auf irgendeiner Lichtung, zu romantischen Spaziergängen im Wald, zu sonst welchem romantischen Schnickschnack. Blumen, Überraschungsgeschenke, Schmuck, parfümierte Briefe, das volle Programm. Während die Zwei in Paris waren, würde Zora alleine hier in Winterbaum hocken.

Bilder des Montags der vergangenen Woche blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Der Abend mit Maren und Georg schien Ewigkeiten her zu sein. Es dauerte keine halbe Stunde, bis sie wieder Paramore hörend in völliger Dunkelheit auf dem Bett lag, den Kopf in ein Kissen gedrückt. Sie kam sich derart albern vor, für jede dusselige Träne, die ins Kissen fiel. Jane ging es garantiert blendend, sowie sie gestern aus diesem Starbucks marschiert war.

Als sei es ein gescheitertes Businessmeeting, für das Frau Neuhäuser keine weitere Zeit übrig hatte, schließlich war sie stets gefragt. Einfach so, ohne auch nur Zoras Reaktion abzuwarten, als sei das gar nicht nötig. Sie hatte sich ihr Urteil vermutlich schon längst gebildet, lange bevor sie diesen Kaffee bestellt hatte, den sie eh nie getrunken hatte. Rein rational betrachtet brachte es überhaupt nichts, so jemandem hinterher zu heulen, der so von sich selbst überzeugt und derart kalt war. Jane hatte so kalt geklungen.

Aber so klar es Zora auch war, dass es absolut nichts brachte, tat es doch unglaublich weh. So unfassbar weh. Sie hatte dieses ganze 'Loch in die Brust reißen', 'Luft zum Atmen rauben', etc. immer für dramatische Metapher, die maßlos übertrieben, gehalten und doch lag sie nun hier wie ein Häufchen Elend. Und sie hatte über ihre gefühlsduseligen Mitschülerinnen gelacht. Das nannte sich dann wohl Karma. Erst lange nach Mitternacht fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

Das es aber immer noch einen Tick schlimmer ging lernte Zora am darauffolgenden Tag. Die Zeugnisverleihung war wie erwartet langwierig und ereignislos. Inhaltslose, aufgeblähte Reden von Lehrern und Schülern ohne jegliches Talent zum freien Sprechen vor Publikum und nicht abbrechender Virenaustausch via Händeschütteln. Zum Schluss noch ein furchtbar gestelltes Foto und dann gingen sie alle mit ihrem ach so wichtigen Abiturzeugnis in der Hand nach Hause. Glücklicherweise sprach sie kaum mit Liv, da diese damit beschäftigt war sicherzustellen, dass ihre Eltern sich nicht vor Publikum gegenseitig an die Gurgel gingen. Die Beiden waren wohl schon länger nicht mehr gemeinsam in einem Raum gewesen, geschweige denn hatten sie nebeneinander gesessen. Ziemlich genau seit Liv zwölf war und alleine Bahn fahren konnte um ihren Vater zu besuchen, wenn man einmal von dem Drama ihrer Konfirmation absah.

Sosehr Zora sonst auch mit Liv mitfühlte, heute war sie dankbar für deren verkorkste Familie, dadurch überstand sie die Veranstaltung nämlich unbeschadet und ohne Kreuzverhör. Ihre Mutter musste sich die vollen zwei Stunden durch ständig die Augenwinkel tupfen, da sie so rührselig war, schließlich war ihr kleines Mäusschen jetzt erwachsen. Soweit so gut.

fragile (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt