Zweiundsiebzig

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Zora war einfach nur eine verboten attraktive Teenagerin, die sich gerade ausprobierte, das hieß absolut gar nichts. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte die Tatsache, dass sie den Kuss letztendlich initiiert hatte nicht wegargumentieren. Ebenso wie das freudig-nervöse Gefühl, bei dem ihr zum einen wohlig-warm gewesen war und sie gleichzeitig eine Gänsehaut gehabt hatte. Dieser Zustand, von dem sie gelesen hatte, den zahllose Freundinnen beschrieben hatte und von dem in Filmen und Liebesliedern geschwärmt wurde. Bis heute hatte sie das nie nachvollzogen, war innerlich fast schon stolz darauf gewesen, nicht so liebestrunken zu sein, wie all diese Idioten, die sich am laufenden Band ihre Herzen brechen ließen. In diesem Moment stellte sie diese rationale Einstellung zum ersten mal ansatzweise in Frage; sah die Möglichkeit, dass es irgendwo da draußen vielleicht etwas gab, dass das Risiko eines gebrochenen Herzens wert war. Jane lag noch lange wach und fiel erst früh am Morgen in einen unruhigen Schlaf.


Eigentlich hatte Jane vorgehabt direkt nach dem gemeinsamen Frühstück mit ihren Eltern zurück nach Düsseldorf zu fahren. Dort gab es schließlich eine Menge zu tun und Arbeit war doch immer die sinnvollste Methode, um sich abzulenken, neuen Fokus zu gewinnen. Aber ihr Vater hatte andere Pläne. Da draußen die Sonne schien schlug er einen Ausflug zur Alten Mühle vor. Ihre Mutter hatte über den Mittag sowieso Krankengymnastik und der Kuchen dort war so lecker.

Jane konnte ihrem Vater diesen Wunsch nicht abschlagen, da sie schon seit Ewigkeiten keinen Vater-Tochter-Ausflug mehr gemacht hatten und die drei extra Stunden sie wohl kaum umbringen würden. Somit fuhren sie um elf Uhr kurzentschlossen los. Jane konnte sich nicht entscheiden, ob sie wollte, dass Zora heute arbeitete oder nicht. Einerseits hatte sie gar keine Ahnung, wie dieses Aufeinandertreffen ablaufen würde und war entsprechend nervös; andererseits war sie gespannt auf Zoras Reaktion und freute sich sie vielleicht zu sehen. Als sie auf den Parkplatz der Alten Mühle fuhren, sahen sie, dass sie nicht die Einzigen mit dieser Idee gewesen waren. Das Lokal war sehr gut besucht. Sie ergatterten gerade noch so einen Tisch in der Sonne. Vorfreudgig-nervös hielt Jane nach Zora Ausschau. Doch da schob sich deren Chefin in ihr Blickfeld und kam breit strahlend auf sie zu.

Jane blickte leicht verwirrt zur Seite und sah, dass ihr Vater einen ähnlichen Gesichtsausdruck hatte und gerade aufstand. Er begrüßte Frau Söhnchen mit einer herzlichen Umarmung und einem Wangenkuss, dabei war er sonst eigentlich der zurückhaltende Typ. „Na, heute mal in Begleitung? Hallo, Karen.", stellte sie sich dann mit festem Händedruck bei Jane vor. „Das ist Jane, meine Tochter.", stellte ihr Vater sie vor. „Hallo.", erwiderte sie dann selbst und sah ihren Vater mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dieser nahm sie gar nicht mehr war, sondern strahlte Karen wie ein Honigkuchenpferd an. Nachdem er dann 'das Übliche' und Jane einen doppelten Espresso bestellt hatte, verschwand Karen wieder nach drinnen. Jane führte sich ihren letzten Besuch diese Cafés vor Augen. Das Gefasel ihrer Mutter hatte sie damals als totalen Nonsens abgetan, aber inzwischen war sie da nicht mehr so sicher. Sie kommentierte das jedoch nicht, schließlich war ihr Vater erwachsen und konnte seine eigenen Entscheidungen treffen. Außerdem konnte sie es ihm wohl kaum übel nehmen, wenn er versuchte einen Einstieg in ein normales Leben zu finden, nachdem seine Ehefrau jetzt schon seit mehr als fünf Jahren regelmäßig ihren eigenen Namen vergaß. Auch wenn die Vorstellung von ihrem Vater mit einer anderen Frau furchtbar falsch schien. „Was gibt es denn bei dir in Düsseldorf neues zu berichten?", begann er das Gespräch. Jane ließ ihre Blick durch die Kulisse des schönen Cafés und der Wiesen und Felder im Hintergrund schweifen, bevor sie zum Antworten ansetzte.

fragile (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt