Einundsiebzig

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Es war schließlich Jane, die den verbleibenden Abstand von vielleicht zwei Zentimetern überwand und Zoras Lippen mit ihren eigenen versiegelte.

Der Kuss war vorsichtig, fast schon keusch. Beide hatten den Atem angehalten, aus schierer Angst, den Moment zu unterbrechen. Aber auch wenn es nur ein viel zu kurzes, viel zu leichtes Aufeinandertreffen war, so nahm Jane umso mehr wahr wie wahnsinnig weich Zoras Lippen waren, als diese ganz sanft den Kuss erwiderte. Sie lösten sich wieder voneinander und blickten einander erstaunt, fast schon ängstlich an. Zora wandte ihren Blick schließlich als erste ab und drehte ihren Oberkörper wieder zur Seite, um sich dann an Jane anzulehnen. Jane atmete einmal tief durch und legte schließlich den Arm, der hinter Zora auf dem Baumstumpf ruhte um deren Rücken. So umschlungen saßen sie eine gefühlte Ewigkeit da und Jane hätte auch nichts dagegen gehabt bis ans Ende der Zeit dort sitzen zu bleiben.

Doch irgendwann wurde es ungemütlich kalt und sie machten sich zurück auf den Weg zum Auto. Dabei schwiegen sie und sahen sich auch nicht mehr direkt ins Gesicht, blieben aber die gesamte Zeit in Körperkontakt. Zora hatte sich bei Jane eingehakt, sodass sie ganz nah beieinander und in Gedanken doch jeder für sich waren.

Trotz der Stille im Wald war es laut wie nie in Janes Kopf. Sie stand beinahe unter Schock, konnte nicht einordnen, was da gerade passiert war, nicht nachvollziehen, wie es dazu gekommen war. Und doch erschien es ihr richtig. Ihr war, als hätte ein Teil von ihr erleichtert aufgeatmet, weil sie angekommen war, die Dinge sich richtig anordneten und sie ihren Platz gefunden hatte. Dort Arm in Arm mit Zora zu sitzen hatte sich so leicht und natürlich angefühlt wie Atmen. Auch im Auto schwiegen sie, diesmal allerdings wieder zu den Klängen von Bon Iver. Als Jane den Wagen schließlich vor Zoras Haus anhielt, löste diese zunächst ihren Sicherheitsgurt und sah dann zu Jane auf. Es war das erste Mal, seit dem Kuss, dass sie sich wieder direkt in die Augen sahen. Zora gab Jane einen flüchtigen Wangenkuss. „Gute Nacht.", verabschiedete sie sich, öffnete die Tür und stieg aus dem Auto. „Gute Nacht.", echote Jane noch, bevor die Tür sich wieder schloss und Zora in Richtung der Haustür verschwand. Mit wenigen Sekunden Verzögerung erlosch das Licht im Inneren des Autos und Jane saß alleine im Dunkeln. In der Luft hing noch ein Hauch von Zoras Duft.

Sie atmete einmal tief durch, startete den Motor und fuhr zurück zum Haus ihrer Eltern. Eine halbe Stunde später saß sie im Schlafanzug auf ihrem Bett, abgeschminkt und mit geputzten Zähnen. Sie hätte gut daran getan zu schlafen, schließlich hatte sie einiges an Schlaf nachzuholen, von der vergangenen Nacht. Doch sie war aufgekratzt, wie lange nicht mehr und ihre Gedanken überschlugen sich. Sie saß auf der Bettkante, die Füße auf dem Boden. Sie wippte mit den Zehen fast schon manisch auf und ab, im verzweifelten Versuch sich zu ordnen.

Was hatte sie da getan? Zora war 19, hatte noch nicht einmal ihr Abi abgeschlossen. Und sie war – eine sie. Eindeutig weiblich, ein Mädchen, eine Frau. Was bedeutete das? Jane war keine... Gott, sie konnte ja noch nicht einmal das verdammte Wort formulieren. Und das in Gedanken. Sie hatte noch nie... Sie hatte bisher immer nur etwas mit Kerlen gehabt. Nie auch nur den Gedanken gehabt, dass sie in der Beziehung anders ticken könnte. Sie war sehr zufrieden und glücklich mit dem, was sie war.

Klar, sie war eine erfolgreiche, taffe Geschäftsfrau, aber sie liebte ihre High Heels, ihre Kleider, ihren Nagellack, ihr Makeup und ihre feminine Frisur. Ihre mindestens zehn verschiedenen Varianten von roten Lippenstiften bereiteten ihr mehr Freude, als sie je öffentlich zugegeben hätte. Sicherlich zelebrierte sie das Alles bei weitem nicht auf Linas Niveau, aber trotzdem. Sie konnte bis heute nicht erklären, was ein Abseits war und wäre völlig überfordert alleine ihre Reifen zu wechseln. Nur weil ihre Ehe gescheitert war hieß das noch lange nicht, dass sie allen Männern abgeschworen hatte. So funktionierte das ja auch gar nicht, es war keine Entscheidung, sondern war Teil von einem selbst und sie hatte ihr ganzes Datingleben lang kein Interesse an Frauen gehabt.

fragile (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt