Als Jane am Abend in ihrem alten Einzelbett lag, war sie wie gerädert. Dieser Nachmittag mit ihrer Mutter hatte ihr mehr abverlangt, als jedes Krisenmeeting oder jede Nachtschicht es gekonnt hätte. Nachdem sie von ihrem katastrophalen Ausflug wiedergekommen waren hatte zwar die Pflegerin wieder übernommen, dennoch saß der Schock bei Jane tief in den Knochen. Sie war ein Kontrollfreak, ihrem Gegenüber immer zwei Schritte voraus. Diese Art von Lähmung, einer Situation hilflos ausgeliefert zu sein, nicht die Zügel in der Hand zu halten, war absolut grausam. Ihrer Mutter so tatenlos beim geistigen Verfall zuzusehen war schlimmer als jede Folter. Beinahe, hätte sie wie ein Häufchen Elend geschluchzt, aber sie riss sich zusammen. Stattdessen griff Jane nach ihrem Laptop, der auf dem Nachttisch lag und las die Mails ihrer Mitarbeiter. Immerhin hatte sie einen ganzen Arbeitstag verpasst, es galt einiges aufzuholen.
Am nächsten Morgen verließ sie um kurz nach halb sieben das Haus. Sie wollte rechtzeitig zur Visite da sein, um sich das Urteil de Ärzte anzuhören. Ihr Vater tendierte nämlich gerne dazu seinen Gesundheitszustand mit Halbwahrheiten zu beschönigen. Als sie in sein Zimmer kam waren die Ärzte schon da. „Guten Morgen. Neuhäuser, die Tochter.", stellte sie sich vor, eilte zu ihrem Vater ans Bett und ergriff seine Hand. Glücklicher Weise hatte ihr Vater diesmal die volle Wahrheit gesagt. Es handelte sich lediglich um einen glatten Bruch, der schnell wieder verheilen würde. Er könnte das Krankenhaus also in wenigen Tagen wieder verlassen. Die Ärzte empfahlen, wenn der Bruch verheilt war ambulante Krankengymnastik, aber im Prinzip sollte er in knapp drei Monaten wieder ganz der Alte sein. „Da hast du aber nochmal Glück gehabt.", sagte Jane zu ihrem Vater, als die Ärzte verschwunden waren und drückte leicht seine Hand. „Ach, mich wirst du so schnell nicht los.", „ Das du aber auch noch immer so viel im Garten machst." Sie schüttelte den Kopf. Ihr Vater erwiderte nur: „Soll ich denn nur noch im Haus sitzen und Fernsehen schauen, wie so ein alter Sack? Das ist doch nur ein kleiner Bruch, das hätte jedem passieren können. Sobald ich wieder fit bin müssen die Äpfel und Kirschen gepflückt werden." Er schlug ihr sachte auf den Oberarm. „ Mach dir mal nicht zu viel Sorgen meine Liebe." Jane schmunzelte. „ Na gut, wenn du meinst. Ich gehe mir einen Kaffee holen, willst du auch einen?"
Zwei Stunden später verließ sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht die Station. Ihr Vater war noch ganz der Alte. Sein trockener Humor und die bestimmte Art, die sie von ihm geerbt hatte, waren noch genau die Selben. Abgesehen von den Fragen nach ihrem Liebesleben, die sie gekonnt umschifft hatte, hatten sie sich wirklich gut unterhalten. Ihr Vater interessierte sich ehrlich für ihre Arbeit und hatte sich über die laufenden, aber auch über die abgeschlossenen Projekte ausgefragt. Mit ihm konnte sie in die Tiefe gehen, Details besprechen. Schließlich hatte er selbst sein Leben lang mit Immobilien zu tun gehabt. Sie gekauft und wieder verkauft; und das ziemlich erfolgreich. Jane sollte ihre Eltern wirklich häufiger besuchen, dachte sie sich, als sie die große Haupteingangstür des Krankenhauses passierte und Kurs auf ihr Auto nahm.
Aber war das nicht die Kellnerin von gestern Mittag?! Neben dem Aschenbecher stand einer Krankenschwester mit einer Zigarette in der Hand und unterhielt sich mit der Bedienung aus dem Café. Diese trug heute schwarze Leggings, Boots und einen überdimensionierten Kapuzenpullover, neben ihr saß ein Schäferhund. Die Haare hatte sie wie Gestern zu einem unordentlichen Knoten im Nacken zusammen gesteckt. Doch in diesem bequemen Outfit sah sie alles andere als abgerissen oder gammlig aus. Im Gegenteil, gerade lachte sie laut auf und ihr Lachen war fesselnd, ansteckend. Sie brauchte sich einfach nicht um Kleidung oder Make-up zu scheren. Ihr Charakter, ihre Selbstsicherheit hatten mehr Ausstrahlung, zogen mehr in den Bann, als jedes noch so teure Outfit es gekonnt hätte. Das schien so ein krasser Gegensatz zu allem, was Jane verkörperte, dass es sie umso mehr faszinierte.
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fragile (GirlxGirl)
RomanceIhr erstes Aufeinandertreffen ist denkbar belanglos und doch hinterlässt die Abiturientin Zora einen bleibenden Eindruck bei der angesehenen Architektin Jane, der diese bald zwingt ihre fundamentalen Grundsätze zu hinterfragen. Cover by @writersfate