Achtunddreißig

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Sofort warf Jane einen Blick auf den Terminkalender. Sie wollte Zora schließlich etwas bieten. Einen ganzen Tag lang Leuten im Büro zuzuschauen war wahrscheinlich nicht allzu spannend. Aber glücklicherweise war am Freitagmorgen ja noch der Pressetermin für das Stadtmuseum, an dem ihr Entwurf der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Eigentlich hatte sie Lina diesen Part überlassen, schließlich hatte sie auch die Präsentation gehalten und Jane hielt eh wenig von dieser allgemeinen Beweihräucherung nach großen Abschlüssen. Aber wenn man so etwas noch nie gesehen hatte, war es beim ersten Mal doch spannend. Kurz entschlossen machte sie sich auf den Weg zu Linas Büro. Nach einem Klopfen wurde sie herein gebeten. „Nanu? Womit verdiene ich denn diese Ehre?", wurde sie von ihrer Kollegin begrüßt. Jane trat ein und schloss die Tür hinter sich.

Lina hatte recht, Jane verließ ihr Büro nur selten, wenn kamen die Leute zu ihr. Sie wusste gar nicht, wann sie das letzte mal hier drin gewesen war. Sie räusperte sich. „Ich wollte mit dir noch einmal über den Pressetermin nächsten Freitag sprechen." Linas Augen bekamen einen enttäuschten Ausdruck. „Willst du da doch selbst hin?" Im Gegensatz zu Jane machten ihr solche Veranstaltungen nämlich Spaß. Sie würde es genießen im Mittelpunkt zu stehen und vor allem war sie erpicht darauf ihr Gesicht im Zusammenhang mit dem Projekt in der Zeitung zu sehen. Sicherlich würde immer noch in großen Lettern Neuhäuser Architektur dabei stehen, dennoch wäre es Linas Karriere definitiv zurträglich. Doch Jane hatte nicht vor ihrer Freundin diese Chance zu entziehen und ihr das Ganze zu runinieren. Sie wusste, dass man seine Mitarbeiter loben und wertschätzen musste, um sie bei der Stange zu halten und für Lina gäbe es kaum eine größere Wertschätzung. Also erwiderte sie: „Keine Sorge, ich lasse dir mit Vergnügen deinen großen Auftritt. Du kannst das doch eh besser als ich." Sofort spiegelte sich Erleichterung in Linas Gesicht wieder. Doch Jane ließ sie nicht zu Wort kommen und fuhr fort: „Ich wollte dir nur eventuell eine Praktikantin mitschicken. Für die ist es sicherlich ganz spannend so einen Pressetermin mal mitzubekommen. Vielleicht schaffe ich es auch selbst noch zu kommen, aber wenn nur zum Zuschauen. Halt du mal deine Rede."

Jetzt wechselte Linas Miene zu einem irritierten Ausdruck. „Eine Praktikantin? Ich habe gar nicht mitbekommen, dass wir jemanden neues bekommen. Von welcher Uni denn? Und für wie lange?" Jane ließ sich auf dem Stuhl, der für Kunden gedacht war nieder und fuhr mit der Hand über die Lehne. „Naja, nicht direkt Praktikantin. Eine Bekannte von mir, Zora. Zora Krämer. Sie hat gerade ihr Abi gemacht und überlegt Architektur zu studieren. Sie will sich für einen Tag die Arbeitsabläufe hier bei uns anschauen und da dachte ich, dass es doch ganz nett wäre, wenn sie am Freitag mitkönnte.", „Okaay, kein Problem.", kam es von Lina zurück. Nach kurzem Zögern setzte sie erneut an. „Eine Bekannte von dir? Die gerade Abi gemacht hat?" Jane zuckte mit den Achseln und nickte. „Jip. Wieso?", „Ach komm, ich darf mich doch wenigstens ein bisschen wundern. Dein Leben besteht praktisch aus Arbeit und normalerweise muss sicher jeder Praktikant gegen dutzende Mitbewerber durchsetzen. Wir vergeben gar keine Praktika unter sechs Wochen . Jetzt kommst du einfach so mit einem Mädel daher, dass sich hier mal umschauen darf? Ich meine du bist die Chefin, aber ungewöhnlich ist das schon." Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte sie Jane . Diese gab Lina innerlich recht, genau das waren ihre eigenen Gedanken gewesen, nachdem sie Zora das Praktikum so spontan vor dem Krankenhaus angeboten hatte. Doch hier in ihrer gewohnten Umgebung, in ihrem Büro war sie die Souveränität in Person. Wenn man auch nur im Ansatz durchscheinen ließ, dass man an eigenen Entscheidungen zweifelt, hatte man verloren. Natürlich musste man in der Lage sein Fehler einzugestehen und Kompromisse zu schließen, aber vor allem musste man wissen, was man wollte. Deshalb antwortete Jane mit dem gewohnten Selbstvertrauen und ihrer unaufdringlichen, aber klaren Bestimmtheit: „Wir sollten uns aber auch nicht von unseren eigenen Routinen lähmen lassen. Glaub mir, dieses Mädchen hat Potential. Das Ganze hat sich durch Zufall ergeben, als ich meine Eltern besucht habe. Außerdem ist es ja nicht so, als ob wir irgendetwas zu verlieren hätten." Lina war schlau genug das Thema nicht weiter zu kommentieren. Ihrer Chefin konnte man sowieso nichts ausreden und mit einer gruselig hohen Trefferquote behielt sie auch meistens recht. Egal ob es um das Talent, die Disziplin oder die Vertrauenswürdigkeit einer Person ging. Nachdem Jane Lina kurz über den aktuellen Genesungsgrad ihres Vaters unterrichtet hatte und ihr anschließend endgültig für die am Abend anstehende Einweihungsparty für ihr Haus zugesagt hatte, widmete Jane sich wieder ihrer eigentlichen Arbeit. Es galt das wöchentliche Meeting aller Mitarbeiter vorzubereiten.

Am Abend stand Jane erneut vor ihrem überdimensionierten Kleiderschrank und musste nun schon zum zweiten mal in dieser Woche ein partytaugliches Outfit zusammenstellen. Man müsste ja eigentlich meinen, dass für eine Einweihungsparty eine legere Jeans-Bluse Kombination ausreichen würde, aber das galt definitiv nicht, wenn es Linas Party war. Diese würde Stil und Klasse zelebrieren und somit auch eine entsprechende Garderobe von ihren Gästen erwarten. Nach kurzem überlegen entschied Jane sich für eine etwas aufwendigere Bleistiftrock-Bluse Kombination , frischte ihr Makeup kurz ein wenig auf und machte sich dann auf den Weg. Heute fuhr sie mit dem Auto. Ein Abend mit größeren Mengen Alkohol pro Woche reichte vollkommen. Sie würde an diesem Abend nicht mehr als zwei kleine Gläser Wein trinken. Es war ja schon abenteuerlich genug, dass dies bereits der zweite Abend war, an dem sie etwas zur Freizeitgestaltung unternahm. Wenn nicht sogar schon der Dritte. Das Abendessen mit Zora kam ihr in den Sinn. Auch wenn es ursprünglich geschäftlicher Natur gewesen war, so war es letztendlich doch wesentlich lockerer und vor allem interessanter als erwartet gewesen.

fragile (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt