Zora drückte Herrn Liebert ihr leeres Glas in die Hand. „Bin sofort wieder da.", flüsterte er noch und verschwand in Richtung der Cocktailtheke. Hätte man ihr vor einer Woche gesagt, dass in eben diesem Moment ein Funktionär des Arbeitgeberverbandes der Bauindustrie dabei war ihr ein neues Getränk zu organisieren, sie hätte es nicht geglaubt. Oder die Tatsache, dass sie sich mit dem Bürgermeister einer Landeshauptstadt über ihre mögliche Studienwahl ausgetauscht hatte. Ach alleine die Tatsache, dass sie hier in diesem Garten, auf diesem Fleckchen Erde stand war unglaublich. Als sie aus dem Taxi gestiegen war hatte sie ihren Augen kaum getraut. Der große Gatsby war ihr in den Sinn gekommen. Wobei das Ambiente dann doch noch weit entfernt war, von der Dekadenz und dem materiellen Wahnsinn Fitzgeralds Welt. Dennoch war diese Veranstaltung vermutlich näher mit den von Fitzgerald gezeichneten Bildern verwand, als mit ihrer Scheunenparty am vergangenen Freitag. Das Haus war definitiv als Villa einzuordnen und die gepflegten Beete gingen in eine Terrasse mit traumhaften Mosaikfußboden über, der vermutlich ein Vermögen gekostet hatte. Das Ganze wurde von Fackeln erleuchtet, die Gäste waren alle ansprechend und schick gekleidet und schienen sich in den meisten Fällen bereits zu kennen. Zora ließ ihren Blick durch die Menge schweifen und nach wenigen Augenblicken hatte sie Jane gefunden. Diese sagte gerade etwas zu Rupert, während dieser förmlich an ihren Lippen hing.
Rupert Loh. Derjenige, der das alles hier in die Wege geleitet hatte und dem eine Kunstgalerie gehörte. Der Gatsby-Vergleich schien auf einmal gar nicht mehr so abwegig. Er stand DiCaprio in nichts nach.
Die Beiden gaben ein tolles Bild ab, das war nicht nur Zora aufgefallen. Einige der Gäste drehten sich immer wieder verstohlen zu den Beiden um. Rupert im dunklen Anzug und in lässiger Pose überragte Jane um ein gutes Stück. Diese sah mit ihrem akkuratem Bob, der schneeweißen Bluse und den blutroten Lippen atemberaubenden aus, wie sie einfach nur da stand. Das perfekte Paar, zumindest optisch. Wieso konnte Zora sich dann nicht für Jane freuen? Rupert schien charmant, war erfolgreich. Wobei sie das Ganze, wie üblich, ja auch gar nichts anging. Sie riss sich los und hielt nach Herrn Liebert Ausschau. Da war er und kam gerade auf sie zu. „Hier, bitte sehr.", überreichte er ihr den Cocktail mit einem charmanten Lächeln. „Also, was sagen sie zu unserem Stipendienprogramm? Bestünde Interesse?", knüpfte er an ihr vorheriges Gespräch an. Zuvor hatte Zora sich zuerst mit Herrn Niggenbölling unterhalten, dessen Visitenkarte nun in ihrer Jackentasche steckte. Dieser hatte sie dann Herrn Liebert vorgestellt, der wiederum mehreren Förderungsprogrammen vorstand. Nachdem sie nicht umgehend geantwortet hatte fuhr er fort: „Oder haben sie erst ein Auslandsjahr geplant? Da können wir auch Praktika vermitteln. Sie können natürlich auch erst nächstes Jahr anfangen. Ich fände es aber wirklich gut, wenn sie sich bei uns bewerben. Wir freuen uns immer über neue Gesichter.", „Wenn ich irgendetwas in die Richtung mache, melde ich mich auf jeden Fall.", versprach Zora. „Aber genug davon, was führt sie eigentlich hierher? Woher kennen sie Rupert? Sie passen ja zugegebener Maßen nicht ganz ins Gästebild." Herr Liebert musterte sie aufmerksam. Zora rührte mit dem Strohhalm in ihrem blauen Cocktail herum, um ihre Hände zu beschäftigen. „Tue ich nicht. Also seit einer halben Stunde vielleicht. Ich bin mit einer Freundin hier.", erläuterte sie. 'Freundin'? War das der richtige Terminus? Zora wusste es beim besten Willen nicht. Sie wünschte es sich, aber wie Jane ihre Beziehung definierte war ja noch einmal eine ganz andere Geschichte. Zu einer Freundschaft zählten schließlich immer zwei. Aber immerhin hatte Jane sie hierzu mitgenommen, das hieß doch etwas.
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fragile (GirlxGirl)
RomanceIhr erstes Aufeinandertreffen ist denkbar belanglos und doch hinterlässt die Abiturientin Zora einen bleibenden Eindruck bei der angesehenen Architektin Jane, der diese bald zwingt ihre fundamentalen Grundsätze zu hinterfragen. Cover by @writersfate