Siebzig

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Sie hatte zwar mit Christian (Janes Exmann) ihre Eltern besucht und sie waren auch in den Wäldern spazieren gewesen; so weit waren sie jedoch nie vorgedrungen.

Sie fokussierte sich wieder auf das Mädchen zu ihrer Linken, dass sie aufmerksam, aus, aufgrund der Dunkelheit geweiteten Pupillen musterte. Die Haare dank des Windes total ungeordnet, die Wangen und Nasenspitze gerötet. „Ich bin mein Leben lang schon fasziniert von Luftbildern und das ist das Nächste zu einer Vogelperspektive, von Winterbaum, wenn man nicht gerade in einen Hubschrauber oder ein Segelflugzeug steigen will.", erläuterte Jane und wies mit dem Kopf auf die Lichter der Stadt. „Das hat mich einfach immer schon gereizt, das Gesamtbild. Wenn ich ein neues Gebäude, oder einen Umbau entwerfe sehe ich nicht nur die einzelne Immobilie, sondern die Straße, das Stadtviertel, die ganze Stadt. Ich versuche immer das große Ganze zu betrachten. Und Winterbaum war mein einziges Anschauungsobjekt. Wie harmonieren die einzelnen Gebäude, was würde ich ändern, was funktioniert. Ich habe Stunden hier oben gesessen. Von hier aus ist einem auch immer präsent, dass der Mensch sich letztendlich in unberührter, perfekter Landschaft breit macht, wir einfach willkürlich Flächen neu gestalten. Manchmal ist das Endergebnis eine schöne Veränderung oder einfach nur Sinnbild von Zerstörung.", beendete sie ihren kleinen Monolog.

Das war am Ende wesentlich philosophischer geworden, als ursprünglich geplant. Doch Zora nickte, während sie wieder auf die Stadt hinunter sah. „Das ist wirklich faszinierend von hier oben. Ich hätte nie gedacht, dass Winterbaum so schön sein könnte." Sie blickte wieder zu Jane. „Danke für Mitnehmen. Wirklich! Vielen Dank dafür." Jane schmunzelte und wies mit ihrem rechten Arm zu den Lichtern. „Naja, die Tatsache, das Nacht ist trägt zum Charme der Stadt bei. Aber dafür siehst du die Kirche jetzt nur schlecht, da die gar nicht beleuchtet wird. Da, hinter dem Rathaus." Jane stützte ihre linke Hand hinter Zora ab und im selben Moment lehnte sich diese näher zu ihr, um ihre Perspektive nachzuvollziehen. Mit ihrem nächsten Atemzug sah sie, wie sich einige von Zoras Haaren im Luftstoß mitbewegten, während sie selbst den angenehm rosigen Duft wahrnahm, der von ihr ausging.

Zoras Blick folgte Janes ausgestrecktem Arm und sie kniff die Augen zusammen. „Ja, ich sehe sie. Man sieht die Umrisse des Kirchturms ganz schwach.", „Das älteste Bauwerk der Stadt, über 500 Jahre alt und bis heute bildet es das Stadtzentrum. Ein so langanhaltendes Objekt bauen, ein Monument, dass das Bild, das Image einer Stadt prägt. Das Empire State Building, die Golde Gate Bridge, das Burg al Arab, so etwas ist der Traum eines jeden Architekten." Jane bekam einen ganz verträumten Gesichtsausdruck, wurde jedoch sofort wieder in die Realität gerissen, als Zora sich umdrehte, ihr Gesicht nun nur noch Zentimeter entfernt. Aus den dunklen Augen heraus sah sie Jane fast schon keck an. „War nicht gerade noch vom Einklang mit der Natur die Rede?" Jane lachte auf. Deshalb mochte sie dieses Mädchen so sehr. Zora war ein lieber, herzensguter Mensch, der mit anderen mitfühlte und dabei dennoch kein Blatt vor den Mund nahm, sondern ehrlich ihre Meinung kundtat, ohne stundenlang die Konsequenzen abzuwägen. „Gut, streichen wir das Burq al Arab. Obwohl die Tatsache, dass wir Menschen überhaupt in der Lage sind so hoch zu bauen, schon beeindruckt." Zora setzte ein ernstes Gesicht auf. „Von einem technischen Standpunkt aus ist die Wasserstoffbombe sicherlich auch beeindruckend." Jane schnappte theatralisch entsetzt nach Luft. „Jetzt wirst du unfair!" Zora grinste nur schelmisch und Jane musste lachen.

Ihr Lachen ebbte ab und auch Zoras schelmischer Gesichtsausdruck war wieder verschwunden. Sie starrten sich einfach nur noch schweigend gegenseitig in die Augen. Jane blickte in diese dunklen Augen, die von noch dunkleren Wimpern umrahmt wurden und wie von alleine hob sich ihre rechte Hand, um eine Strähne, die Zora ins Gesicht hing, hinter ihr Ohr zu schieben. Zoras Blick folgte ihrer Hand. Sie lächelte und ihre Augen fanden danach sofort wieder die von Jane. Ihre Hand ließ Jane zunächst auf Zoras Schulter ruhen. Als sie gerade im Begriff war sie wegzuziehen, da sie unsicher war, was sie da gerade eigentlich getan hatte, hielt Zora sie mitten in der Bewegung auf, indem sie die Hand mit ihrer eigenen umschloss. Es war zu dunkel, als dass Jane es mit Sicherheit hätte sagen können, aber sie hatte den Eindruck, dass Zora errötete. Mit ihrer anderen Hand strich sie sich nun in einer hastigen Bewegung die Strähnen aus der anderen Gesichtshälfte hinters rechte Ohr, allerdings ohne den Blick von Jane zu lösen. Dabei näherten sich die beiden einander noch weiter, Jane konnte deutlich Zoras Atem im Gesicht spüren.

fragile (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt