Einhundertzwanzig

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Als Zora dann wieder zu Hause war, die Haustür ins Schloss fallen ließ und im Glauben war den Tag unbeschadet überstanden zu haben, kam ihre Mutter ihr, ein bisschen zu blass um die Nase, aus der Küche entgegen. In der linken Hand hielt sie einige Briefe. Werbung, Rechnungen, das Übliche. In der Rechten hatte sie einen einzelnen Din A4 Umschlag aus schwerem, luxuriös aussehendem Papier. Die Hand zitterte, als sie Zora den Brief reichte. „Für dich."

Zora nahm den Umschlag entgegen, drehte ihn um. – Zora Krämer – Sonst nichts. Keine Empfängeradresse, kein Absender. Sie blickte zu ihrer Mutter hoch, die sie anstarrte. Nach einem Räuspern ließ sie Zora allein. Zora fuhr mit dem Finger über das Papier, es war wirklich edel. Es fehlte quasi nur noch das Wachssiegel. Der Brief wog auch einiges. Verwundert zog sie ihre Jacke und Schuhe aus und ging dann, den Umschlag unter dem Arm in ihr Zimmer. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch. Für eine kurze Sekunde hatte sie gehofft, dass der Brief vielleicht von Jane war, sich dann aber ganz schnell zur Vernunft ermahnt. Das war nicht Janes Handschrift und ihre Mutter schien ja eine Ahnung zu haben, von wem der Brief kam, sonst hätte sie Zora mit Sicherheit neugierig nach dem möglichen Absender gefragt. Das hatte sie aber nicht. Stattdessen war ihre Miene fast schon panisch gewesen.

Tief in ihr drin hatte Zora auch eine Ahnung. Eigentlich noch nicht mal nur eine Ahnung, sie wusste es. Sowie sie wusste, das heute Freitag war. Dennoch oder vielleicht gerade weil sie tatsächlich richtig lag war es ein totaler Schock.

Der Brief kam von ihrem Vater. Nach über 19 Jahren war dies ihr erster Beweis, dass er überhaupt existierte. Der Umschlag war keineswegs so schwer, weil ihr Vater sich in einem seitenlangen, emotionalen Brief für seine Abwesenheit entschuldigte, oder diese zumindest erklärte. Im Gegenteil, der handschriftliche Brief war denkbar kurz. Er informierte viel mehr über seine Existenz und eröffnete ihr die Möglichkeit für ein Treffen, wenn sie das wünschte. Lediglich acht Zeilen. Das immense Gewicht kam dadurch zustande, dass die beglaubigte Kopie eines Vertrages für einen Treuhandfond dabei lag. Dieser Fond lief auf ihren Namen. Nun, nachdem sie ihr Abitur geschafft hatte und ja auch plante in eine vielversprechende Richtung zu gehen (woher auch immer er von Zoras Studienplänen wusste) sei es an der Zeit, dass sie eigenständig über ihre Mittel verfügte. Ab sofort würde sie monatlich einen ziemlichen Batzen erhalten. Und nach Abschluss eines Studiums nochmal einen sehr viel größeren Batzen.

Zora hatte sich nie riesige Gedanken um ihre Studienfinanzierung gemacht. „Wir schaffen das schon.", war stets der Leitspruch ihrer Mutter gewesen und das hatte sie auch geglaubt. Außerdem gab es BaFöG und Co. in Deutschland. Zudem hatte sie ja vor Kurzem angenehmer Weise Anlass gehabt über Stipendien nachzudenken. Nun allerdings hielt sie eine sehr viel attraktivere Antwort auf ihre noch gar nicht so richtig gestellten Fragen in der Hand. Geld war bei Zora und ihrer Mutter generell nie ein Thema gewesen. Sie waren alles andere als reich, kamen aber ganz gut über die Runden. Dinge wie der nicht gerade günstige, sechswöchige Austausch nach Schottland in der zehnten Klasse, oder das passende Abiballkleid waren immer irgendwie drin gewesen.

'Selbstständig über ihre Mittel verfügen'. Diese Formulierung implizierte definitiv, dass es vorher auch schon Mittel gegeben hatte. Über diese Mittel hatte dann vermutlich ihre Mutter verfügt. Zora war immer davon ausgegangen, dass sie noch von irgendeinem Erbe lebten, denn lediglich mit dem Kellnerjob in der Alten Mühle, selbst wenn ihre Mutter noch so viele Überstunden schob, ging die Rechnung nicht auf, dass war ihr immer klar gewesen. Sie starrte noch eine ganze Weile auf die Papiere vor ihr, bis sie sich auf den Weg runter in die Küche machte. Ihre Mutter erwartete sie schon. Man sah Zora offensichtlich an, wie sie sich fühlte, auch wenn sie es selbst nicht ganz fassen konnte. Überrumpelt, das sicherlich. Enttäuscht? Wütend, aber auf wen? Erleichtert, dass sie Antworten auf Fragen hatte, die sie schon lange aufgehört hatte zu stellen? Freudig über das Geld? Neugierig auf diesen Mann, der anscheinend ihr Vater war, auch wenn ihre Geburtsurkunde keinen benannte? Sie wusste es beim besten Willen nicht. Jedenfalls sah ihre Mutter resigniert aus. „Was willst du wissen?"

fragile (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt