Jane wandte den Blick ab. Zora sprach ihr aus der Seele. Es war in der Tat ihr schlimmster Alptraum ihre Mutter so verfallen zu sehen. Und so ging es nicht nur ihr, sondern vermutlich auch Millionen von anderen Menschen, die Angehörige oder Freunde mit Alzheimer und Demenz hatten. Somit hatte Zora einfach nur das Offensichtliche ausgesprochen, aber dennoch tat es unglaublich gut das zu hören, denn Jane hatte es noch nie gehört. Von wem auch? Sie sprach ja mit niemandem über ihre Familie, sodass niemand in ihrem Kollegen- und Freundeskreis auch nur von der Krankheit ihrer Mutter wusste. Jane wusste, dass sie auch Zora von selbst unter keinen Umständen vom Zustand ihrer Mutter erzählt hätte. Doch wie es der Zufall gewollt hatte, saßen sie nur wegen ihrer Mutter überhaupt hier und nur dadurch hatte Zora diese simplen Worte, die Jane so dringend hatte hören wollen, sagen können.
Jane hielt den Kopf abgewandt, während sie antwortete, so war es einfacher sich zu konzentrieren. „Ja, das ist es. Es ist grausam und unfair, aber einem sind die Hände gebunden. Man kann absolut nichts tun." Da spürte sie, dass Zora mitfühlend ihre Hand auf Janes Knie gelegt hatte. „Das tut mir wirklich unglaublich leid. Aber ich bin mir sicher, dass du dein Bestes gibst. Und man sollte auch nicht sein ganzes Leben davon bestimmen lassen. Das ist zwar äußerst grausam, aber das Leben geht weiter." Zora hielt inne, um den Kopf zu schütteln. „Ach, was rede ich. Das tust du ja auch gar nicht. Du hast das außerdem eh bestimmt schon häufig genug gehört. Es ist nur so, dass die Schwester meiner Chefin Alzheimer hat, und ich weiß, wie schwierig das sein kann. Also zumindest, wie hart es für meine Chefin ist... Ich schwafle zu viel, sorry. Das waren vermutlich zu viele Cocktails.", brach Zora ab und zog auch ihre Handy langsam wider weg. Jane widersprach umgehend: „Nein, so ehrlich und direkt sind weniger Menschen, als man glaubt. Das tut ehrlich gut, das mal zu hören. Und ich verdränge das Thema auch viel zu viel. Ich wohne schließlich weit genug weg, sodass ich mich nicht allzu viel damit auseinandersetzten muss. Sie wird ja auch rund um die Uhr von Krankenpflegern betreut, von daher muss ich eigentlich nicht wirklich eine Last tragen. Ein schlechtes Gewissen hat man trotzdem." Nun war es Jane, die inne hielt, etwas unsicher, wohin sie mit diesem Mini-Monolog eigentlich wollte. „Jetzt rede ich aber zu viel, wir hatten anscheinend Beide ein paar Cocktails zu viel."
Jane und Zora blickten im selben Moment auf und sahen sich direkt in die Augen, um dann synchron zu schmunzeln und leise zu lachen. „Naja, ich bedanke mich zumindest dafür, dass du mich auf die Party mitgenommen hast. Ich hatte wirklich einen schönen Abend. Und du darfst so viel über deine Mutter reden, wie du möchtest.", erwiderte Zora und wurde damit wieder ernster. Sie fixierte dabei weiterhin Janes Augen und legte ihre Hand erneut auf deren Oberschenkel. Auch Jane erwiderte den Blick weiterhin. „Danke. Darauf komme ich, wenn du Pech hast sogar zurück." Zum wiederholten Male fragte sie sich, wie zur Hölle Zora erst 19 war. Sie wirkte so viel reifer. Jane lehnte sich noch einige Millimeter vor und musterte im Halbdunkeln das Gesicht der Teenagerin. Die dunkeln, bei Nacht nahezu schwarzen Augen, das kleine Muttermal am Haaransatz, das fast immer von den langen Haaren verdeckt wurde und nun, da Zora die Haare hinters Ohr gesteckt hatte, aber einen sofort ins Auge fallenden Kontrast zur hellen Haut bot und die zu einem minimalen Lächeln verzogenen Lippen, die Untere etwas voller, als die Obere. All die kleinen Details, die sie zu der machten, die sie war. Zumindest optisch. Doch hinter der charmanten Fassade steckte noch so viel mehr und sie hatte selbst noch nicht im Ansatz begriffen, wie viel. Wozu sie fähig sein würde, wenn sie denn wollte. Welche Wirkung sie auf Menschen hatte. Wie genau sie mit ihrer Wortwahl häufig den Kern der Sache traf, ohne dabei groß überlegen zu müssen. Wie sie begriff, anstatt mit der trägen Masse mitzuschwimmen.
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fragile (GirlxGirl)
RomanceIhr erstes Aufeinandertreffen ist denkbar belanglos und doch hinterlässt die Abiturientin Zora einen bleibenden Eindruck bei der angesehenen Architektin Jane, der diese bald zwingt ihre fundamentalen Grundsätze zu hinterfragen. Cover by @writersfate