Einhundertzweiundzwanzig

3.5K 188 9
                                    


Wollte sie diesen Mann überhaupt in irgendeiner Form kennenlernen? Wie stand sie zu dem Verhalten ihrer Mutter? Deren strikter Verschwiegenheit? Ihr war, als sei ihr der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Sie fühlte sich allein, verloren. Grotesk, wenn man sich überlegte, dass doch jemand neues in ihr Leben getreten war, ein Mensch, dem sie potentiell am Herzen lag. Die Einsamkeit blieb dennoch, schließlich war sie eben diesem Menschen die ersten 19 Jahre ihres Lebens völlig egal gewesen. Oder war es wirklich besser so gewesen? Um dies zu beantworten müsste sie mehr wissen, die genaueren Umstände kennen. Sie sollte ihre Mutter um die Details bitten, die sie nicht kannte. Ihrer Mutter die Möglichkeit geben das Versäumte nachzuholen, die Lücken zu schließen. Aber sie bewegte sich keinen Millimeter, fühlte sich erdrückt.

Sie schlief in dieser Nacht erstaunlich gut. Vermutlich hatte ihr System keinen anderen Weg gesehen, als sich abzuschalten, einfach um dem Overkill zu entgehen. Den folgenden Tag nahm sie durch einen Tunnelblick war, sie fühlte sich taub, war wie von Nebel umgeben. Das Geplapper der Haarstylistin und des Makeupartists, die erneute Diskussion mit Liv über die finale Schuhwahl, an all dem nahm sie wohl irgendwie teil, war physisch anwesend, gab Antworten und lachte an den richtigen Stellen, aber sie hätte nicht ein Gespräch inhaltlich wiedergeben können.

Die Entfremdung war allgegenwärtig, alles schien so sinnlos, völlig irrelevant. Liv war entweder zu aufgedreht um Zoras mentale Abwesenheit mitzubekommen, oder hatte sich entschieden den Zustand ihrer besten Freundin zumindest für diesen Abend nicht zu kommentieren. Zora war es egal, Hauptsache sie überstand diesen Ball irgendwie. Mit ihrer Mutter sprach sie, bis sie beim Essen nebeneinander saßen kein Wort. Ihren Teller hatte sie noch nicht angerührt. „Rede mit mir!" Die Stimme ihre Mutter klang äußerst verzweifelt. „Schrei mich an. Sag mir, was ich alles falsch gemacht habe, aber schließe mich bitte nicht aus." Zora hatte den Kopf in ihrer linken Hand abgestützt, den Ellenbogen auf dem Tisch. Um sie herum herrschte ein angeregtes Stimmengewirr, eine ausgelassene Atmosphäre. Neben ihnen unterhielten sich Nats Eltern gerade über den Direktor, Herrn vom Hofe.

Zora schüttelte den Kopf. „Ich dachte immer er wüsste gar nicht, dass ich existiere." Sie blickte zu ihrer Mutter auf. „Ich hatte sogar zwischenzeitlich Paranoia, dass er ein Vergewaltiger sein könnte, bis Tante Karen mir mal nach ein paar Glas Grog erzählt hat, dass ihr zumindest eine kurze Affäre hattet."

Ihre Mutter verdeckte ihre Augen mit den Händen. „Es tut mir so leid! Ich habe einfach nie den Zeitpunkt gefunden, und es gibt da auch nicht viel zu erzählen. Aber ich verspreche dir, dass ich dir rede und Antwort stehe. Du bist schon lange alt genug." Zora musterte ihre Mutter und nickte langsam. „Du hast gestern gesagt, dass du nicht wolltest, dass ich in der Nähe seiner Familie auswachse. Weshalb? Und woher kanntet ihr euch überhaupt?" Ihr Mutter schluckte und begann dann zu erzählen:

Die Beiden hatten sich bei einer Anti-Atomkraft Demo kennengelernt. Ihre Mutter, die junge, engagierte Studentin und Atomkraftgegnerin war durch reinen Zufall auf Theo, Zoras Vater, einen Investor des Stromkonzerns getroffen. Vor dem Hauptsitz des Konzerns nach einer Demo, als ihr Vater gerade das Gebäude verließ, stießen sie ineinander. Sie die aufgeweckte, blutjunge und intelligente Aktivistin mit ihren überambitionierten Idealen, er der charmante, gutaussehende und wohlhabende Bad Boy. Es war ein kurze, leidenschaftliche und aufregende Affäre gewesen. Verboten und gefährlich. Theo stammte aus einer reichen Unternehmerfamilie, die traditions-, profit- und karriereorientiert war. Die ungeplante Schwangerschaft hätte seinem Image erheblich geschadet. Da Zoras Mutter ebenfalls nichts mit diesen Leuten, die gänzlich gegensätzlich zu all ihren Grundsätzen standen, hatte zu tun haben wollen, hatten sie sich schnell geeinigt. Er zahlte und sie zog das Kind groß. Zudem verließ sie die Stadt und niemand würde je etwas von seiner Vaterschaft erfahren. Eine Win-Win-Situation, soweit man bei einer gänzlich ungeplanten Schwangerschaft davon sprechen konnte.

fragile (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt