Kapitel 5

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Savannah stand noch etwas verschlafen in der Küche. Kochte Tee für das Frühstück, und sah verträumt aus dem Fenster. Alice, die den Weg entlang gelaufen kam, weckte Savannahs volle Aufmerksamkeit. Sie musterte ihre kleine Schwester, als diese zur Tür rein kam. Alice Haare waren wild und ihre Wangen gerötet von der frischen Luft. Was ihr ein gesundes Aussehen verlieh. Für den Bruchteil einer Sekunde, sah Savannah das lebenslustige Kind vor sich, welches sich am liebsten in der wilden und rauen Natur aufhielt, um auf die Suche nach magischen Dingen zu gehen. Oftmals sah sie dann ganz genau so aus, wie eben, wenn sie zurück kam. Oftmals zu spät, so dass ihre Mutter immer beinahe umkam vor Sorge. Von diesem kindlichen Wirbelwind, der Kobolde sah und mit Elfen redete, war heute nichts mehr zu sehen oder spüren. Die Härte des Lebens, hatte dies Alice bereits vor zehn Jahren geraubt. Die Lebensschule, durch die sie danach ging, musste auch noch das letzte Fünkchen davon, zerstört haben. Wie gerne, hätte Savannah Alice vor alle dem bewahrt. Es gab Tage, seit Alice wieder hier war, da machte sich Savannah Vorwürfe, dass sie sie damals nicht aufgehalten hatte. Hier wäre Alice so vieles erspart geblieben. Vielleicht hätte sie alles wieder gefunden, was durch den Tod ihrer Eltern, verschüttet wurde. Savannah mochte Alice Wesen, insgeheim schon immer und beneidete sie auch ein wenig darum, dass sie sich diese Unbeschwertheit so lange bewahren konnte. Auch wenn es dadurch nicht immer einfach war, den Zugang zu ihr zu finden. Es musste einen Weg geben, um diese Unbeschwertheit wieder in Alice Leben zu bringen. An manchen Tagen war es kaum mit anzusehen, wie ihre Kleine, schweren Schrittes durch diese hindurch ging und die Last ihres Lebens, Alice beinahe erdrückte und darunter vergrub. Weder John noch sie selber, hatten bis jetzt eine Lösung gefunden, wie sie ihrer Schwester helfen könnten. Savannahs Gedanken schweiften zu Conner ab. Er hatte durch seine Art, die vor allem darin bestand, Menschen so zu nehmen, wie sie waren, mit welcher Last sie auch immer durchs Leben gingen, auch ihr und John geholfen, die Dunkelheit zu vertreiben. Ein bisschen von der Last zu nehmen oder sie zumindest tragbarer machte, in dem Conner mit half, sie zu tragen. Noch nie zuvor, hatte Savannah einen Menschen wie ihn kennengelernt. Er kam wie aus dem Nichts, genau im richtigen Moment, als hätte das Schicksal Conner hier her geführt.   
„Warst du etwa die ganze Nacht draußen?“, fragte Savannah, immer noch etwas abwesend und stellte Alice eine Tasse Tee auf den Tisch.
„Nein.“ Alice ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen. „Ich bin erst heute Morgen raus.“
„Ach was.“ Erstaunt, drehte sich Savannah zu Alice um. „Einfach so?“
„Na ja, nachdem ich wieder einmal träumend durch das Zimmer geflogen bin und die Dusche keine innere Ruhe brachte, verspürte ich ganz plötzlich den Drang dazu, nach draußen zu gehen“, antwortete Alice und nahm die warme Tasse zwischen ihre etwas kühlen Finger.
„Geht es dir gut?“ Savannah sah Alice direkt in die Augen. Früher sprühten diese voller Lebensenergie. Jetzt waren sie leer. Es schmerzte Savannah. Wie gerne, würde sie Alice Augen wieder einmal strahlen sehen. Sie bekamen dann immer diesen ganz besonderen Glanz und sahen aus, als würden sie Funkeln.
Alice zuckte mit den Schultern. „Wieso?“ Sie fühlte sich immer noch überfordert damit, wenn jemand sie nach ihrem Befinden fragte. Wie sollte Alice darauf antworten, wenn sie es selber nicht wusste?
„Weil ich es wissen möchte. Ich bin deine Schwester und mache mir seit zehn Jahren Sorgen um dich. Mache mir Vorwürfe, dich nicht daran gehindert zu haben, hier weg zu gehen. Damit dir all dieses Leid erspart geblieben wäre. Jetzt bist du wieder hier und dennoch weiß ich nicht wirklich wie es dir geht. Dabei möchte ich dir so gerne helfen. Nur weiß ich nicht wie und bei was genau.“
Alice rührten Savannahs Worte bis zu ihrem kalten, steinigen Herzen. Dabei fühlte es sich an, als würde sie mit ihrer warmen Hand darüber streichen und es wärmen.
„Du hättest mich nicht aufhalten können. Das weißt du auch. Und für alles, was danach geschehen ist, hast du keine Schuld. Also lass es, dir diese zu geben. Eine bedrückte Seele in der Familie, reicht wohl aus.“ Alice hatte Savannahs Hand umfasst und sie sich an ihre Wange gelegt. Mit geschlossenen Augen, schmiegte Alice diese daran. Seit einem Monat war sie nun wieder zuhause, wo Alice hingehörte und konnte noch immer so gut wie keinen Körperkontakt zulassen. Außer ihre Geschwister hielten sie nach einem Albtraum fest. Alice hatte Angst davor, dadurch nur noch schwächer zu werden und komplett unter der Last ihres Lebens zu zerbrechen. Dabei schrie ihre geschundene Seele, regelrecht danach, dass sie jemand festhielt und ihr damit half, diese Last zu tragen.
„Lass es doch endlich einfach zu.“, flüsterte Savannah. Man konnte den inneren Kampf förmlich spüren, den Alice mit sich selber führte. „Und wenn du reden möchtest, bin ich für dich da. Genauso wie John. Auch Sean ist für dich da. Er hat dich bereits in sein Herz geschlossen, wie die kleine Schwester, die er nie hatte.“
Reden. Wie oft, hatte Alice im letzten Jahr geredet. Über so vieles und doch eigentlich nichts. Was hatte es gebracht? Emotional ging Alice im Kreis. Oder wenn sie einen Schritt vorwärts gemacht hatte, kamen bestimmt wieder zwei zurück. Die Zeit im Frauenhaus, half Alice vor allem dabei, sich in Sicherheit zu wissen und sie die nötige Hilfe bekam, damit sie wirklich endlich von Brian los kam. Ihrem verkümmerten Herzen und der zerstörten Seele, half sie nicht. Weshalb ihre Hoffnung so sehr auf diesem Ort lag, den Alice ihre Heimat nannte. Im letzten Monat, hatte sie jedoch eher Rückschritte als Fortschritte gemacht. Wahrscheinlich erwartete sie einfach zu viel, in zu kurzer Zeit. Auch Ballyconneely vollbrachte nicht einfach so, irgendwelche Wunder. Alice seufzte. „Weißt du, manchmal kann ich es immer noch nicht richtig fassen, dass ich wieder hier bin. Wenn auch noch nicht wirklich so wahrhaftig, wie ich sein sollte oder es möchte.“
„Ich habe all die Jahre, nie aufgehört daran zu glauben, dass du irgendwann wieder nachhause kommst. Der Tag, an dem wir dich ziehen lassen mussten, sehe ich noch heute vor mir, als wäre es eben erst gewesen.“ Savannah strich über Alice Haare und ließ ihre Hand erneut an ihrer Wange ruhen.
Alice spürte Tränen hinter ihren Augen aufsteigen. „Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“
„Es ist nicht deine Schuld. Hauptsache, du bist wieder da.“ Savannah gab Alice einen Kuss auf die Wange. Wie gerne, würde sie ihre kleine Schwester jetzt einfach in den Arm nehmen.
„Wahrscheinlich braucht es ein halbes Leben, mich wieder zu finden und hier  Wurzeln zuschlagen.“ Alice fuhr sich durch die Haare. „Ich war zu lange, zu weit weg von meiner Heimat, meiner Familie und mir selber.“
„So ein Quatsch, Alice. Deine Wurzeln waren nie ausgerissen. Wenn man so sehr eins mit seiner Heimat ist, wie du es immer mit Irland warst, kann man nicht entwurzelt werden. Du irrtest nur zulange in der Dunkelheit umher, die deine Trauer um Mum und Dad ausgelöst hat.“
„Du hast mich gewarnt und hattest mal wieder recht. Hätte ich doch nur wenigstens einmal auf dich gehört, statt so verdammt stur zu sein.“
„Glaub mir Alice, nichts hätte ich mir mehr gewünscht, als dass ich falsch gelegen hätte. Doch jetzt ist er vorbei.“
„Ist es das wirklich?“ Alice sah Savannah direkt in die Augen. Würde es jemals vorbei sein? Brians Worte, welche Alice als letztes wahr nahm, bevor sie bewusstlos wurde, hatten sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt. Sie waren mit ein Grund, weshalb Alice noch nicht los lassen konnte und jeden Tag auf der Hut war. Getrieben von der Angst, dass Brian eines Tages wieder vor ihr stehen würde. „Für mich, fühlt es sich nicht so an. Er ist wie ein Schatten, der mich begleitet. Ich dachte, wenn ich erst einmal wieder hier bin, dass es leichter wird, alles zu verarbeiten. Die Vergangenheit abzuschütteln. Aber gefühlt, habe ich zehn Rückschritte gemacht, statt nach vorne zu gehen. Es fühlt sich an, als steckte ich in einer endlos Spirale fest, ohne Ausgang. Ich würde dir gerne sagen, wie du mir helfen kannst. Doch das kann ich nicht, weil ich selber nicht weiß, wie und ob mir überhaupt zu helfen ist.“ Einzelne Tränen, verließen Alice Augen. Weinen war etwas, was sie sich abgewöhnt hatte. Es half nichts, machte sie schwach und befreite Alice auch nicht aus der Hölle. Die Gefühle in Schach zu halten und nicht nach außen dringen zu lassen, stärkten Alice Überlebenswillen und machten ihr Inneres, gleichzeitig undurchdringlich und kühl.
„Du musst dir noch etwas Zeit geben, Alice. Du konntest erst richtig los lassen und musstest nicht mehr jeden Tag stark sein, seit du da bist. Viel zu lange war dein Leben ein Kampf. Davon, musst du dich erst einmal wieder erholen.“ Es tat Savannah im Herzen weh, wie Alice von sich sprach und dabei zu sehen, wie Sehnsucht und Angst gegeneinander kämpften. Wie gerne, würde sie ihr etwas von Alice Kummer und Schmerzen abnehmen.
„Ich habe es aber satt, Savannah. Ein Monat ist vergangen, seit ich wieder hier bin. Und sie mich an.“ Alice breitete ihre Arme aus und sah an sich runter. „Ich bin ein psychisches Wrack. Wandle durch meine graue Welt, in der die Vergangenheit so präsent ist, als steckte ich noch mitten drin.“
Savannah umfasste Alice Hände. „Ich verstehe deinen Unmut und deine Ungeduld. Aber setz dich nicht selber unter Druck. Gehe Schritt für Schritt. Nimm Tag für Tag. Und freue dich einfach an den kleinen Dingen, die dir ein Lächeln aufs Gesicht zaubern und sich gut anfühlen. Das heute, war doch ein guter Schritt in die richtige Richtung. Ich habe dir angesehen, dass es dir gut getan hat.“
Alice nickte zustimmend. „Heute Morgen am Meer, fühlte ich das erste Mal seit Jahren, eine Art Leichtigkeit. Auch wenn es nur für den Bruchteil einer Sekunde war, fühlte es sich gut an. Es gab mir kurz das Gefühl, zu leben.“
„Du brauchst einfach mehr solcher Momente, um etwas in dir zu bewegen.“, sagte Savannah mehr zu sich selber. „Vielleicht solltest du jetzt einfach damit anfangen, dich wieder ins Leben zustürzen und unter die Leute zu mischen.“ Savannah sah Alice fragend an.
„Das habe ich…irgendwie…auch wieder vor. Ich weiß nur nicht wie. Es fühlt sich alles blockiert an.“ Alice wusste, dass sie zu schnell, zu viel von sich und ihrer Psyche verlangte. Der Schritt nachhause, war erneut ein Großer in ihrem Leben. Obschon alles irgendwie noch gleich war, hatte sich doch alles verändert. Die Zeit und das Leben, ist in den letzten Jahren, auch in Ballyconneely nicht stehen geblieben. „Du grübelst. Was ist los?“ Alice sah Savannah fragend an.
„Na ja, ich hätte da so eine Idee, um dich wieder ins Leben zu integrieren.“ Savannah sah Alice unsicher an.
„Und die wäre?“
Wahrscheinlich würde sie Alice damit gerade völlig überfordern. Ein Versuch, war es jedoch wert. „Erinnerst du dich an unsere berühmten Sessions und Tanzabende im Pub?“
Alice Augen fingen an zu funkeln. Wie hätte sie diese Abende jemals vergessen können? Sie waren für Alice immer das Highlight des Monats. „Die macht ihr immer noch?“
Savannah nickte. „Und die sind immer so gut besucht, dass wir noch zwei helfende und flinke Hände gebrauchen könnten. Was denkst du?“ Alice Blick war kritisch und nachdenklich zugleich. Savannah ahnte nichts Gutes. „Es müsste auch nicht den ganzen Abend sein. Wenn es dir zu viel ist, dann…Ich dachte nur, vielleicht würde es dir gut tun, mal wieder unter Menschen zu kommen, die dich übrigens alle vermisst haben. Und das zu tun, was dir immer Spaß gemacht hat.“
Alice atmete tief durch. „Ich werde etwas eingerostet sein und bin mir daher nicht sicher, ob ich euch eine große Hilfe sein werde, aber…“ Alice sah in ihre leere Tasse, als würde dort die richtige Antwort stehen. „Wir können es ja mal versuchen.“
„Echt jetzt?“ Savannah machte große Augen und konnte nicht glauben, was Alice ihr da sagte.
„Was habe ich zu verlieren?“ Zuckte Alice mit den Schultern.
„Nichts.“ Savannah fing an zu strahlen und zog Alice überschwänglich in eine Umarmung, ohne darüber nach zudenken. „Oh, ich freue mich ja so! Du wirst sehen, du bist schneller wieder im Ganzen drinnen, als du denkst.“
Alice war sich ihrer Entscheidung noch immer nicht ganz zu Hundertprozent sicher. Sie wusste jedoch, dass es der richtige Weg und ein weiterer Schritt darauf, in die richtige Richtung war. Es war außerdem nötig, sich wieder den Menschen zu stellen und dem sozialen Leben auszusetzen. Dies hatte ihr auch Claire immer wieder gesagt. Nur so konnte die Seele heilen und allem voran, das Vertrauen neu aufgebaut werden.
Zu Savannahs Erstaunen, erwiderte Alice die Umarmung etwas länger als sonst.
„Ich bin froh, wieder hier zu sein und dass ich nicht mehr alleine bin. Auch wenn ich mich, tief in meinem Innern, immer noch einsam und wie ein Einzelkämpfer fühle, so tut es gut zu wissen, dass jemand für mich da ist.“  
„Du warst nie allein, Alice. In Gedanken, waren wir immer bei dir. Und du wirst auch nie mehr allein sein. Du musst es nur zulassen, dass wir für dich da sind und mit dir gemeinsam kämpfen werden. Oder irgendjemand anderes.“
Um jemand anderem wieder vertrauen zu können, lag noch viel Weg und Arbeit vor ihr. Das war sich Alice bewusst und sicher. Dieses Urvertrauen, würde vielleicht nie wieder ganz zurück kommen. Im Moment, wollte sie jedoch nicht darüber nachdenken und wie Savannah ihr geraten hatte, einen Schritt nach dem anderen gehen.

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