Aussetzer

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Erst nach einer Weile hielt ich inne. Ich bemerkte erst jetzt, dass ich völlig außer Atem war. Ich keuchte und meine Hände brannten.
Hatte ich gerade wirklich wie von Sinnen auf ein Fahrrad eingeschlagen? Zum Glück befand ich mich in einer nicht so befahrenen Gasse, sonst hätte mich bestimmt schon jemand angesprochen. Ach, was, eingewiesen!
Vielleicht wäre das sogar besser. Ich kam mir vor, als erwachte ich aus einer Trance, mir wurde erst jetzt bewusst, dass mein Verhalten Konsequenzen haben könnte. Ach, was, würde!
Ich hatte das Rücklicht abgeschlagen und ziemlich viele Kratzer und Schmutz auf dem Rad hinterlassen. Es war kein Totalschaden, aber Kendall würde, wenn sie erstmal ihre Augen richtig aufmachte, auf jeden Fall einen Unterschied bemerken.
Scheiße! Was war nur mit mir los?
Zögerlich hievte ich das Rad hoch. Es war doch schon vorher kaputt gewesen, oder? Bevor ich ausgeflippt war? Mit den komischen Knarzgeräuschen?
Ich musste mir das nur lange genug einreden, vielleicht würde ich es dann selber glauben. Hoffentlich.
Mit kamen schon wieder die Tränen. Oh Mann, was stimmte denn nicht mit mir? Jetzt gleich müsste ich Kendall meine Randale wohl oder übel beichten, und dann... eine weitere Person gegen mich! Eine weitere Person wütend auf mich! Eine weitere Person, die ich als Verbündete, oder, wenigstens als mir zugetan ein für alle mal abschreiben konnte.
Mit einem Mal bekam ich Angst. Was, wenn sie das meiner Mom oder Oma Yolanda oder sonst noch wem erzählen würde und die dafür sorgen wollten, dass ich professionelle Hilfe bekam?
Was, wenn ich irgendwo eingesperrt werden würde? War dieser Ausraster Anlass genug? Wenn ich jemanden sehen würde, der auf ein wehrloses Fahrrad einprügelte, würde ich mir sehnlichst wünschen, dass diese Person nicht mehr auf freiem Fuß wäre. Sowas war eine Gefahr für die Allgemeinheit.
Ich war eine Gefahr für die Allgemeinheit!
Ich drehte völlig durch. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Plötzlich war ich wie besessen von dem Gedanken, jemand könnte mich gesehen haben und das Ganze filmen, um zu erwirken, dass ich in eine... Einrichtung kam. Am besten noch jemand, den ich kannte. Wohnte Janis nicht hier irgendwo in der Nähe?
Ich gab wieder Fersengeld auf dem Rad. Den Motor hatte ich ausgeschaltet, bevor er mich mit seinen komischen Geräuschen wieder wahnsinnig machte. Ich würde das auch so schaffen.
In der Schnittlauchstraße angekommen überfielen mich wieder Beklemmungen. Wieder wurde mir das ganze Ausmaß meiner Zerstörungswut klar. Was sollte ich Kendall denn bitte sagen? Selbst, wenn sie jetzt zu müde war... irgendwann würde sie aufwachen und kapieren, dass das Fahrrad sich nicht selbst so zugerichtet hatte.
Oder, vielleicht würde sie an Einbrecher glauben? Die Schnittlauchstraße war ein hartes Pflaster, wenn man Natalie Eisenhuths Mutter glaubte, die sich schon einmal abfällig über diese Gegend geäußert hatte. Sofort war sie mir unsympathisch geworden. Und an die zweite Person, die Bedenken bezüglich der Schnittlauchstraße hatte, wollte ich noch viel weniger denken.
Nach einigem Hadern drückte ich dann schließlich doch die Klingel. Niemand machte auf. „Okay, keiner da", murmelte ich halblaut und wollte mich aus dem Staub machen.
Dabei wusste ich genau, dass das nicht stimmte, ich suchte nur nach einer Ausrede, um dem anstehenden Gespräch aus dem Weg zu gehen. Und, richtig, der Türsummer ging. Ich öffnete die Tür und wuchtete das Fahrrad die paar Stufen hoch.
Als die Haustür aufging sah Kendall noch fertiger aus als eben. Sie rieb sich die Augen und gähnte.
„Hi! Und, wie war's? Fährt sich's gut? Hab's selbst erst einmal ausprobiert. Ich sollte echt mal wieder Fahrrad fahren, aber, ich bin schon froh, wenn ich mich überhaupt zu irgendwas aufgerafft krieg!"
Ich nickte. Das kannte ich. Dass ich ihre Frage nicht beantwortete fiel Kendall gar nicht auf, sie schloss mir die Kellertür auf.
Ich rumpelte mit dem Rad die paar Stufen nach unten und konnte mich irgendwie trotzdem nicht freuen, dass das Ganze so glimpflich abgelaufen war. Im Moment konnte ich mich über gar nichts freuen. Ich sehnte mich nach einem lieben, aufmerksamen Menschen, der bereit war, sich meine Probleme anzuhören, der mich Ernst nahm und für mich da war. Und optional Zayn die Leviten las. Oder ihn dazu brachte, sich zu entschuldigen und alles einzusehen. Aber selbst dann wäre nicht mehr alles so wie früher. Der Schmerz ging, was blieb war der Vertrauensbruch.
Ja, ich war gar keine Einzelgängerin. Ich sehnte mich nach Gesellschaft, doch nicht von den Leuten, die mich tagtäglich umgaben. Es waren einfach die Falschen.
Ich blieb noch eine Weile im Keller, bis mir auffiel, dass es durchdringend nach Müll und feuchter Wäsche roch.
Da ging ich lieber wieder hoch, wo Kendall im Türrahmen lehnte.
„Danke, Kenny", brachte ich noch heraus. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen.
„Kein Problem!", sagte die.
Ich wollte noch nicht gehen, doch sie deutete schon eine Verabschiedung an. Ich wollte noch nicht nach Hause. Mich jetzt mit meinen durchweichten Puschen auf den Heimweg machen und mir dort von Oma eine Standpauke anhören... je mehr ich darüber nachdachte, desto gemütlicher erschien mir Kennys Wohnung. Kaum zu glauben, dass ich eben noch Angst vor ihr beziehungsweise vor ihrer Reaktion gehabt hatte. Was hatte ich für absurde Sachen befürchtet?
Aber im Moment hatte ich vor allem Angst, so komisch es auch klang. Es erschien mir unmöglich, mich je nochmal zurückzulehnen und zu entspannen, meine Gedanken abzuschalten und die Seele baumeln zu lassen. Da konnte Kourtney noch so viele Atemübungen auf Facebook posten.
Ich musste etwas tuen! Ich ließ die Schultern hängen.
„Ja... ich gehe jetzt mal", sagte ich in meinem leidensten Tonfall und setzte eine Miene auf, von der ich dachte, dass sie verzweifelt aussah. Doch entweder war ich eine schlechte Schauspielerin, auch, wenn ich ja wirklich am Boden war, oder sie war einfach genauso einfühlsam wie Reign.
„Tschau, Lucy! Mach's gut! Und bitte sag deiner Mom mal, dass sie mich vor dem Dienst mal anrufen soll!"
„Schreib ihr doch!", hätte ich am liebsten geantwortet. Doch scheinbar war Kendall so verschlafen, dass sie vergessen hatte, dass wir im Zeitalter von WhatsApp und Co lebten. Warum schickte sie ihr nicht direkt ein Fax?
Doch als sie die Haustür hinter sich zuzog, verging mir das Lachen. Ich wusste: jetzt war ich auf mich alleine gestellt.

Hey Leutz
Na, was geht? Und, was sagt ihr, dreht Lucy durch? 😂 könnt ihrs verstehen oder findet ihr sie zu irre? Lassts mich wissen 😂🤪
Und schreibt auch, um welchen handlungsstrang ich mich als nächstes kümmern soll 🙈
LG 🧡✌🏼
Eure Mila 🦄💓

Smells like Teen SpiritWo Geschichten leben. Entdecke jetzt