Kapitel 90

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Ich saß neben Luca auf dem Beifahrersitz seines Autos und scannte die Umgebung ab, während er langsam durch die Straßen rollte.  Ja, wir hatten Suchteams gebildet. Marvin war mir Andi unterwegs, damit er nicht selbst fahren musste und ich halt mit Luca, weil Erwin ja in Bochum stand. Zuhause bei Andi warteten Chris und Dani falls Carmen von alleine nach Hause kam und Franzi hatte auf die Schnelle eine Whats App Gruppe eingerichtet, über die wir alle in Kontakt blieben. Mama koordinierte die Suchgebiete, damit wir nicht alle an der gleichen Stelle suchten. Ich schaute auf die Uhr. Wir waren jetzt schon seit fast zwei Stunden unterwegs und es war schon stockfinster. Um diese Zeit sollten kleine Mädchen eigentlich ins Bett gehen und eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen bekommen...... aber auf keinen Fall sollten sie alleine durch die Weltgeschichte stromern. Ich schaute auf die Temperaturanzeige. Verflucht nur noch 10 Grad da draußen. Die Kleine musste nicht nur totale Angst haben, sie musste auch fast erfrieren. Ihre Regenjacke war jedenfalls nicht besonders warm. Wie auf Bestellung fielen genau in diesem Moment fette Regentropfen vom Himmel. Manno, ging es noch beschissener? „Kruzinoamoi!", fluchte mein Bruder neben mir los. „Jetzt wird Flipper auch noch nass." Er knallte sauer seine Hand auf das Lenkrad. Scheinbar hatte sich Carmen auch in sein Herz geschlichen. Das war etwas, was ich nie für möglich gehalten hätte. „Und gibt es was neues?" Ich schaute auf mein Handy und schüttelte den Kopf. Alle suchten fleißig, aber niemand hatte bis jetzt auch nur einen Fitzel von Carmen gefunden. Obwohl, das war doch vielleicht auch ein gutes Zeichen. Denn Stofffetzen von ihrer Jacke hätten ja eher bedeutet, dass ihr etwas zugestoßen war. Sofort ratterte wieder das Kopfkino bei mir los. Es gab tausend Sachen, die ihr passiert sein konnten und mit jeder Minute, die wir sie nicht fanden, stieg die Wahrscheinlichkeit. „Und sie hat dich heute Mittag angerufen?" Ich nickte. „Wann? Was hat sie gesagt? Versuche dich zu erinnern. Vielleicht finden wir dann einen Hinweis", hakte er nach. Ich überlegte kurz „Es muss so gegen 13 oder 14 Uhr gewesen sein." Luca verzog sein Gesicht. „Nicht ungefähr. Schau in deiner Anrufliste nach." Klar, warum war ich da nicht drauf gekommen? „13 Uhr 37. Sie hat nur meinen Namen gesagt und dann war der Anruf weg. Als ich sie sofort zurückgerufen habe, war gleich die Mailbox dran", rekapitulierte ich. „Okay." Er kaute auf seiner Unterlippe. „Und hast du irgendwelche Hintergrundgeräusche wahrgenommen?" „Es war da tierisch laut." Luca nickte „Gut, dann können wir schon einmal davon ausgehen, dass sie schon unterwegs war. War das Straßenlärm so wie an einer Hauptstraße oder was war das?" Ich versuchte mich zu erinnern. „Könnte sein." „Also können wir diese kleinen Seitenstraßen hier eigentlich ausschließen. Sie muss dann schon weiter weg gewesen sein." Bei dem Gedanken sackte mein Magen in meine Schuhspitzen. Wenn sie da schon so weit weg war, wo sollte sie dann erst jetzt sein? „Das macht doch alles keinen Sinn, wir werden sie niemals mehr finden", schniefte ich los. „Dodo, hör auf zu flennen. Das hilft keinem. Reis dich zusammen", blaffte er mich an. „Versuche dich zu erinnern, ob du noch etwas gehört hast. Irgendetwas markantes. Zum Beispiel eine vorbeifahrende Eisenbahn oder ein Flugzeug", fuhr er in ruhigem Ton fort, während ich mir mit meinem Ärmel über die Wangen wischte. Er hatte ja recht. Aufgeben war keine Option. Wir mussten Carmen finden und zwar so schnell wie möglich. „Da..... da war es laut und im Hintergrund war ein Lautsprecher." Warum war mir das nicht schon früher eingefallen? „Das könnte ein Bahnhof gewesen sein." Luca schaute kurz zu mir und strich mit seiner Hand über meine Wange. „Wir finden sie", sagte er überzeugt, ehe er nachdenklich schwieg. „Flipper ist doch ziemlich pfiffig?" wandte er sich auf einmal wieder an mich. Ich nickte sofort. Ja, die Kleine war für ihr Alter ziemlich helle. „Meinst du, sie könnte mit der Bahn zu uns nach Bochum gefahren sein?" Mm, möglich wäre das schon, dann schüttelte ich den Kopf. „Sie war ja nur das Wochenende da und kennt die Adresse nicht. Außerdem warum sollte sie zu uns, wo ich mich doch in der letzten Zeit nicht mehr bei ihr sehen lassen habe?" „Also dein Warum ist eine ziemlich blöde Frage. Die Kleine vergöttert dich, sonst hätte sie dich auch nicht angerufen und die Adresse hat sie auch. Wir haben ihr doch letztens gezeigt, wie man den Standort speichert." Stimmt, wie konnte ich das vergessen. „Schreibe eine Nachricht in die Gruppe, dass wir eine Idee haben und die checken." Ich begann sofort zu tippen, während mein Bruder ordentlich Gas gab. Die ganze Fahrt nach Bochum über schickte ich ein Stoßgebet nach dem anderen in den Himmel und gab Versprechungen, was ich als Dankeschön alles machen würde. Ob Gott wohl bestechlich war?Als wir um die Ecke in unsere Straße bogen, schloß ich kurz die Augen und setzte mein letztes Stoßgebet ab. Luca fuhr schwungvoll auf unsere Einfahrt und da sah ich im Scheinwerferkegel eine kleine zusammengekauerte Gestalt auf der Stufe vor unserer Eingangstür sitzen. Genau in diesem Moment war mir klar, dass es niemand besseren als diesen Erbsenzähler neben mir gab, der mit seinem penetranten Analysieren den richtigen Ort gefunden hatte. Noch bevor der Wagen richtig stand, öffnete ich die Tür und sprang heraus. Carmen hob ihren Kopf und starrte mich an. Ich rannte zu ihr und zog sie in meine Arme „I..ich.....da...dachte...scho...schon...du....ko..kom..kommst ga...gar...ni...nicht...mehr", bibberte sie und klapperte mit den Zähnen. Sie war ganz kalt und zitterte. Verflucht, wie lange hatte sie hier schon gesessen? Ehe ich noch etwas sagen konnte, hatte Luca sie schon auf seine Arme gehoben. „Los schließ die Tür auf", gab er mir die Anweisung, die ich auch sofort gehorsam befolgte. Im Wohnzimmer rollte er die Kleine sofort in einer Decke ein. „Ich lass warmes Badewasser ein und mache einen heißen Kakao. Und du bleibst bei ihr." Ich nickte nur und schlang meine Arme um den kleinen Deckenborrito. „Ich bin ganz alleine mit der Bahn hergefahren", grinste Carmen auf einmal stolz. „Am Bahnhof Bochum habe ich dann versucht dich anzurufen, damit du mich abholst. Dann war aber das blöde Telefon alle. Und ich musste mich durchfragen bis ich hier war." Plötzlich schaute sie mich vorwurfsvoll an „Und dann war keiner Zuhause und ich musste ganz lange warten. Das war voll kalt." Wie zur Bestätigung nieste sie. „Die Wanne ist fertig für kleine Delfine." Luca reichte uns beiden eine Tasse mit dampfendem Kakao. „Danke, Dumbo", strahlte die Kleine meinen Bruder an. Ich musste grinsen, denn man sah ihm an, dass er sich nicht im geringsten über seinen Kosenamen ärgerte. „Na, dann ab ins Bad." Ich wickelte Carmen aus der Decke aus. „Ihr kommt aber mit." Sie griff meine Hand und schaute bettelnd zu meinem Bruder, der nur nickte. „Hast du schon Bescheid gegeben, dass wir sie gefunden haben?" Ich schüttelte den Kopf. Carmen blieb wie angewurzelt stehen. „Ich will da nicht wieder hin. Ich bleibe hier. Marlen sperrt mich immer nur ein." Scheiße, dann war das nicht das erste Mal. Was hatte die Brunzkachl nur mit dem Kind gemacht. „Nicht mehr. Papa hat sie rausgeworfen." Die Kleine schaute mich ungläubig an „Echt?" Ich nickte. „Aber heute bleibe ich hier. Ich bin nämlich schon total müde." Trotzdem hüpfte sie begeistert in die Badewanne und spritzte mit dem Wasser nach Luca. „So, jetzt reicht's mit der Plantscherei. Sonst kannst du hier noch putzen, bevor du ins Bett kommst." Da war wieder der autoritäre Erbsenzähler. „Ich habe aber noch Hunger", knörte die Kleine als sie das Wort Bett hörte. „Ich habe nämlich den Dosenöffner vergessen." „Was für einen Dosenöffner?" Ja Luca, das wollte ich auch wissen. „Na für die Ravioli Dose. Ich habe mir schon gestern einen Rucksack zusammengepackt, wenn die mich wieder einsperrt. Ich habe auch extra schon mein Sparschwein geschlachtet, damit ich die Fahrkarte bezahlen kann." Stolz grinste sie uns an. Ich sah, wie mein Bruder seine Hände zu Fäusten ballte. Ja, ich musste mich auch zusammenreißen, um nicht loszufluchen. Wie verzweifelt musste Carmen gewesen sein, wenn sie schon solchen Plan gefasst hatte. „Das hast du echt gut gemacht", lobte Luca sie „Schwarzfahren geht nämlich gar nicht." Sie nickte immer noch stolz und zog eine Flappe „Nur das blöde Handy laden habe ich vergessen." „Noch einmal haust du aber nicht so ab. Da redest du vorher mit uns. Wir sind nämlich für dich da. Wir sind doch das Dodo-Flipper-Dumbo-Team" Ich schaute meinen Bruder schockiert an, als er uns beiden seine Hand zum Einschlagen hinhielt. Seit wann mochte der Erbsenzähler Kinder? „Gott sei Dank, Schnecke. Ich habe mir solche Sorgen gemacht." Andi kam ins Bad gestürzt und hob seine Tochter aus der Badewanne und drückte sie fest an sich. „Papa", schluchzte Carmen auf einmal und presste sich an ihren Vater. „Mach so etwas nie wieder. Ich hatte solche Angst um dich", schluchzte auch Andi und Tränen liefen ihm über die Wangen. „Warum? Mama, Papa, Oma und Opa im Himmel haben doch auf mich aufgepasst und ich wusste ja wie ich zu Lucy komme." Ich musste hart schlucken als ich daran dachte, was Andi schon alles widerfahren war und wie viel die Kleine ihm bedeutete. „Jetzt geht es aber wieder nach hause." Carmen schüttelte ihren Kopf und die Wassertropfen flogen nur so aus ihrem nassen Haar. „Nein heute schlafe ich bei Lucy. Und Marlen ist wirklich weg?" Vorsichtig schaute sie ihren Papa an. „Ja, und sie kommt auch nie mehr wieder. Ab jetzt gibt es nur noch uns beide. Uns kommt keine Frau mehr ins Haus." Die Kleine riss ihre Arme jubelnd in die Luft. Erleichtert atmete ich auf. Andi lächelte mich über den Kopf der Kleinen dankbar an. Es gab doch nichts schöneres als Carmen so glücklich auf dem Arm ihres Vaters zu sehen. Ich spürte wieder ein Kribbeln an meiner Nasenwurzel.

Schuss und Treffer auf der Reservebank Teil 8. ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt