Kapitel 190

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Eine Viertelstunde später klappte die Haustür der Familie Reus hinter uns ins Schloss. Ich entriegelte gerade meinen Erwin als ich ein Stück weiter laute Stimmen hörte. Und nicht nur irgendwelche Stimmen, sondern zwei mir sehr gut bekannte Stimmen. Sofort schoss mein Blick in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. Ich entdeckte Andi, der vor seinem Auto stand und ihm gegenüber stand Genia. Sie hatte sich vor ihm aufgebaut und schimpfte auf ihn ein. Verflucht, was machte sie denn hier? Was sollte das? Sie wusste doch, dass es die einstweilige Anordnung gab und sie sich ihm und Carmen nicht nähern durfte. „Wir haben hier jetzt etwas zu klären", hörte ich sie laut und deutlich. Schockiert sah ich, wie sie Andis Arm umklammert hielt. Oh mein Gott, was sollte das? Das war überhaupt nicht gut. Das gab tierischen Ärger. Andi sah ziemlich sauer aus, als er versuchte ihre Hand abzuschütteln. Ich musste an mein Horoskop denken. Jemand öffnet Ihnen heute die Augen. Sollte das heißen, dass mir Genia heute durch ihr Auftreten hier die Augen öffnete und mir klar machte, dass sie mich die ganze Zeit doch nur verarschte und ausnutzte? Das konnte ich aber eigentlich nicht glauben. Das konnte doch nicht sein, dass ich mich so in ihr geirrt hatte. „Du rennst jetzt hier nicht weg und hörst mir zu, Andreas", feuerte sie schon wieder gegen ihn, während er immer noch  versuchte ihren Arm loszuwerden. Scheinbar hatte sie sich richtiggehend festgekrallt. Ich ließ Maja stehen und rannte zu den beiden. „Lucy ist das Beste, was dir und der Kleinen passieren konnte. Sie liebt euch beide abgöttisch und sie ist ein ganz besonderer Mensch", wetterte sie weiter. Ich blieb abrupt stehen. Hielt sie da gerade eine Brandrede für mich? „Ohne sie würde ich noch immer auf der Straße leben und hätte nichts zu essen. Sie ist mein rettender Engel und ich werde nicht zulassen, dass du sie verletzt und fertig machst, nur weil du in dein Kleinhirn nicht reinbekommst, dass sie einfach nur noch nicht dazu gekommen ist, dir zu erzählen, dass sie mir hilft." Andi funkelte sie an. „Misch du dich nicht in Sachen, die dich nichts angehen. Das ist ein Sache zwischen Lucy und mir." Er hatte es geschafft sich von Genia loszumachen, die aber sofort wieder auf dem Sprung war und ihm mit ihrem Zeigefinger in der Brust herumstocherte. „Nicht, wenn du ihr vorwirfst mir zu helfen. Dann ist das auch meine Sache." Ich musste da sofort eingreifen, bevor das eskalierte. „Ich habe schon die Polizei gerufen", hörte ich die Stimme von der Werksstudentin, die den Kopf aus der Tür der Agentur steckte. Polizei?! Scheiße, das konnten wir überhaupt nicht gebrauchen. „Genia, komm. Du musst hier schnell weg." Ich zog sie am Arm. „Du fällst wieder auf diese Show herein." Andi schüttelte enttäuscht seinen Kopf. Was sollte das denn heißen? Das war keine Show, schließlich setzte sie hier gerade eine Menge auf's Spiel. „Ich bleibe hier, bis Andreas endlich einsieht, was für ein Idiot er ist, weil er dir Vorwürfe macht." Genia bewegte sich kein Stück. „Hast du nicht gehört? Gleich kommt die Polizei und dann...." „Das ist mir doch egal. Du hilfst mir so viel. Da kann ich doch nicht mit ansehen, wie es dir schlecht geht, weil der Idiot sein Gehirn nicht anschalten kann, um zu sehen, dass er im Unrecht ist. Er sperrt dich aus seinem Leben aus, obwohl du das Beste bist, was ihm passieren konnte." Okay, gestern hatte sie mitbekommen, dass ich ziemlich down war und hatte gebohrt, bis alles über den Zoff aus mir herausgeplatzt war. Manno, hätte ich geahnt, dass sie aktiv werden würde, hätte ich ihr doch nichts davon erzählt. Gut, für die Einsicht war es jetzt aber zu spät.  Andererseits musste ich sagen, dass es mich auch irgendwie freute, dass sie sich so für mich einsetzte. Das bedeutete, dass ich mich absolut nicht in ihr geirrt hatte. Trotzdem musste sie hier ganz schnell weg. „Los komm jetzt." Ich zerrte sie gegen ihren Widerstands zu meinem Erwin und schob sie auf den Rücksitz. „ Aber...", protestierte sie. „Nichts aber", unterbrach ich sie. „Denk an das Baby. Du willst es doch behalten. Da kannst du keinen Ärger gebrauchen. Und ich bekomme das schon mit Andi geklärt." Ihr Gesicht zeigte eindeutig Unzufriedenheit, aber sie leistete keinen weiteren Widerstand und schnallte sich an. Ich startete Erwin schnell. Maja saß bereits auf dem Beifahrersitz. Im Losfahren ließ Genia die Seitenscheibe herunter. „Andreas sei kein Idiot und entschuldige dich bei Lucy", brüllte sie Andi zu, der mit starrer Miene zu meinem Auto schaute. Wahrscheinlich war er jetzt noch verärgerter, weil Genia ihm auf's Dach gestiegen war. Verflucht! „Warum musstest du dich nur einmischen", meckerte ich in ihre Richtung „Was sollte das denn?" Sie zuckte mit den Schultern. „Du machst so viel für mich. Da wollte ich auch mal was für dich machen. Besonders weil du ja auch wegen mir den Ärger hast." Ich bog auf die Hauptstraße und gab Gas. Ein Polizeifahrzeug mit Blaulicht begegnete uns. Irgendwie war ich mir ziemlich sicher, dass ich wusste, wo es hinwollte. Puh, dann hatten wir ja noch einmal Glück gehabt. Das war echt knapp. „Was ist überhaupt los?" Maja hatte ja nur den Streit gerade mitbekommen, wusste aber vom Rest nichts. Ich lieferte ihr eine Kurzfassung. „Männer sind alles gedankenlose unempathische Idioten", war ihr Fazit. Wobei ich das Gefühl hatte, dass sie damit  mehr Luca als Andi meinte. „Die Kleine hat es durchschaut", lachte Genia vom Rücksitz. „Dann bist du also Marlen?" Maja musterte sie „Ich hatte dich ganz anders in Erinnerung." Genia schüttelte sich „Erinnere mich an diesen Namen nicht. Das war ein Künstlername und eine ziemlich beschissene Zeit. Ich bevorzuge Genia. Das ist übrigens auch mein richtiger Name im Gegensatz zu meiner Haarfarbe", grinste sie und schüttelte ihren kurzen schokobraunen Fransenkopf. „Ja, ich hatte mehr lange blonde Haare in Erinnerung", lachte Maja. „So, jetzt lasst uns aber erst einmal frühstücken gehen", schlug ich vor. „Auf ins Café Lotte", schmunzelte Maja. „Und danach kannst du mich zu deinem Mathe-Genie schleppen." „Mathe-Genie?", fragte Genia sofort interessiert. „Ja, ich brauche dringend Nachhilfe in Analysis." „Okay Differetial- und Integralrechnung. Da haben viele Probleme." Maja riss die Augen auf. „Du kennst dich damit aus?" Genia fing an zu lachen. „ Ich habe den Master in Mathematik vor knapp fünfzehn Jahren gemacht. Ja, da ist noch genug hängengeblieben." Maja schaute mich ungläubig an. „Ist sie dein Mathe-Genie?" Ich nickte grinsend. „Wow, das hätte ich..." Maja brach mitten im Satz ab. „Du hast mich auch nur für so eine hirnlose Bitch gehalten", Genia schaute meine Freundin auf dem Beifahrersitz an, die nur wortlos nickte und eine ziemlich gesunde Gesichtsfarbe präsentierte. Ich parkte Erwin vor dem Café ein. „Ich bezahle das Frühstück", bot Maja sofort an und wir suchten uns einen Platz draußen im Freien. Bei dem Wetter konnte man das ja genießen. Vielleicht war es auch ganz gut, wenn Genia erst einmal nicht gleich zuhause auftauchte, für den Fall, dass Andi ihr die Polizei auf den Hals geschickt hatte. Aber das würde er doch hoffentlich nicht tun. Nein, ganz bestimmt würde er das nicht tun. Ihr Auftritt hatte mir aber die Augen geöffnet, dass ich wirklich alles richtig gemacht hatte, ihr zu helfen. Andi hatte ja das gleiche Horoskop. Vielleicht hatte sie ihm ja auch die Augen geöffnet. Ich spürte einen kleinen Funken Hoffnung in mir aufkeimen.

Schuss und Treffer auf der Reservebank Teil 8. ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt