Kapitel 197

399 54 20
                                    


„Nee, du musst hier sitzen, sonst kannst du gar nicht auf das Meer gucken." Carmen schob mich auf die andere Seite des Tischs, noch bevor ich mir den Stuhl überhaupt zurecht ziehen konnte. Irgendwie hatte die Kleine heute etwas Bestimmendes an sich. Sie wirkte fast wie ein Feldgeneral mit Schlachtplan. Das war irgendwie komisch. Egal, dann setzte ich mich halt auf den anderen Stuhl. Ja, hier hatte man definitiv den besseren Blick auf die Bucht und den Felsen, der am Ende steil aus dem Wasser ragte. „Das ist der Fingerzeig Gottes", erklärte mir die Kleine ganz selbstbewusst und deutete auf den Felsen. „Stimmt's, Papa", versicherte sie sich dann aber doch. Andi nickte nur wortlos. Seit er vorhin in seinem Rucksack vergeblich gesucht hatte, war er so komisch. Auch auf der Herfahrt im Auto hatte er die ganze Zeit kein Wort gesagt, nur stumm aus der Seitenscheibe gestarrt, während er meine Hand gehalten hatte. Ein Glück hatte Papa darauf bestanden, heute zu fahren. „Wollen wir zur Feier des Tages eine Flasche Wein bestellen?" Mama schaute sich in der Runde um. „Na klar, ein Bisschen flüssiger Mut kann nie schaden", kam es sofort von Papa. Was hieß hier Feier des Tages? Heute war doch ein ganz normaler Urlaubstag. Und nicht einmal der letzte. Okay, dann wäre ja noch weniger ein Grund zum Feiern vorhanden. Und wozu brauchte man Mut? War hier das Essen so schlecht? „Also ich nehme Cola", lehnte ich ab. „Ich auch", kam es von Carmen, die neben mir auf ihrem Stuhl hin und her rutschte, als säße sie auf einem Ameisenhaufen. Bestimmt bekam sie gleich von Andi eine Ansage, dass es für sie keine Cola gab. Nee, sie war auch so schon hibbelig genug. „Okay, Flipper. Ich nehme dann auch ein Glas Wein." Was?! Ich schaute verwundert zu Andi. Wieso erlaubte er Carmen Cola um diese Zeit, dann schlief sie doch heute erst in der Nacht ein. Und wieso trank er Wein? Er trank doch so gut wie nie Alkohol. Ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, kam auch schon der Ober und nahm die Bestellung auf. Ich schaute zum Wasser, in dem sich wunderschön die langsam untergehende Sonne spiegelte. Es glitzerte wie flüssiges Gold. „Dat is schon romantisch, ne Dodo?" Papa war meinem Blick gefolgt. Ich nickte. „Ja, ne. Das ist voll romantisch", begeisterte sich auch Carmen. „Das hat Papa ausgesucht." Sie schaute stolz zu ihrem Vater, der wieder nur wortlos nickte. Manno, was war denn heute mit dem los? Irgendwie wirkte er total geknickt. Wenn wir wieder zu Hause in der Finca waren, würde ich dem erst einmal auf den Grund gehen. „Senora, ihr Schnitzel." Der Kellner stellte meinen Teller vor mir ab. Okay, die Portion sah echt angemessen und lecker aus. Über unseren Tisch senkte sich eine gefräßige Stille und nur das Klappern des Bestecks war noch zu hören. Ich spitzte meine Ohren. Waren das Bongos? „Hört ihr das auch?" „Mensch Dodo, wie oft waren wir jetzt schon in der Cala Beniras? Hast du echt noch nie die Hippies mit ihren Trommeln mitbekommen?" Papa schüttelte ungläubig seinen Kopf. Entschuldigung, vielleicht hatte ich noch nie darauf geachtet. Scheinbar war ich wohl immer mit anderen Sachen beschäftigt. Zum Beispiel damit mit Tessa zu schnattern. Mist, warum hatten wir die heute nicht mitgenommen? Dann wäre hier nicht so eine bedrückende Stille. Andererseits hätte ich dann die Trommler wieder nicht mitbekommen. Das Essen zog sich irgendwie still dahin, genau wie der Nachtisch. Okay, der Flan war super lecker und ich hatte nicht abgelehnt, als mir Andi auch seinen zugeschoben hatte, aber so langsam konnten wir echt gehen, denn trotz des wunderschönen Ambientes, sorgte mich Andis Abwesenheit so langsam mächtig. War wieder irgendetwas vorgefallen, von dem ich nichts bemerkt hatte? Heute würde ich mich aber mit Sicherheit an Chris Ratschlag halten. Es ging nicht ins Bett, bevor wir das nicht geklärt hatten. „Soll ich noch eine Flasche Wein bestellen?" Papa schaute Andi fragend an „Oder lieber gleich Kribbelwasser?" Andi schüttelte den Kopf „Nichts von beidem." Ja, klar, das eine Glas Wein war ihm garantiert genug. „So langsam könnte es aber mal losgehen." Papa tippte ungeduldig mit seinen Fingern auf der Tischplatte.Was sollte denn hier noch losgehen? Wir waren doch schon mit dem Essen durch.  Und der Sonnenuntergang war bestimmt noch eine halbe Stunde hin. Papa glaubte doch wohl nicht, dass er mit seiner Ungeduld die Natur antreiben konnte. Innerlich schüttelte ich nur den Kopf. „Fällt aus, ich habe das Equipment vergessen", kam es kleinlaut von Andi. „Du hast was!?" Papa schaute ihn fassungslos an. „Und das sagst du erst jetzt? Wir hätten es doch noch schnell holen können." Andi schüttelte seinen Kopf. „Nicht hier, zu Hause." Papa verzog sein Gesicht. „Du meinst, ich habe mich umsonst aufgeregt." Was war das denn für eine Unterhaltung? Irgendwie verstand ich nur Bahnhof. Während Papas Finger immer noch ungeduldig auf der Tischplatte trommelten, wanderte sein Blick suchend umher. Plötzlich sprang er auf. „Mitkommen!" „Was?" Andi schaute ihn irritiert an. „Mitkommen, habe ich gesagt." Papas Melancholie von vorhin war komplett verschwunden und hatte einer extremen Entschlossenheit Platz gemacht. So langsam verstand ich überhaupt nichts mehr. Ich sprang sicherheitshalber auch auf und wollte den beiden folgen. „Du bleibst hier, Dodo. Das ist Männersache." Wie jetzt Männersache? „Wieso, was wollt ihr denn machen?" Fragen konnte ja nicht schaden. Bei Papa wusste man ja nie so genau, was dabei herauskam, wenn er solche Spontaneinfälle hatte. Und Andi schien mir heute nicht in der mentalen Verfassung ihm zu widersprechen. „Wir kümmern uns jetzt um das Equipment und gehen da auf den Hippiemarkt und ihr wartet hier." Ich folgte seinem Fingerzeig. Tatsache waren dort diverse kleine Verkaufsstände neben dem Parkplatz. Aber bitte, was wollten sie für ein Equipment besorgen? Sollte jeder von uns eine Bongotrommel bekommen und die Trommler unterstützen? Ich schaute zu Mama, die nur mit den Schultern zuckte. Scheinbar hatte sie auch keinen Plan. „Was ist ein Equipdings?" Carmen schaute ihrem Vater ganz nervös hinterher. „Equipment ist eine Ausrüstung. Zum Beispiel ein Fotoapparat, um Fotos zu machen." Die Kleine kratzte sich am Kopf. „Ich habe doch aber mein Handy um Fotos zu machen. Und etwas anderes stand doch nicht im Plan."  Welcher Plan? Ehe ich sie ausquetschen konnte, war sie auch schon aufgesprungen und rannte Andi und Papa hinterher. Was sie konnte, konnte ich auch. Mein Stuhl schrammte über den Fliesenboden. „Hinsetzen!" Mama klangen sehr bestimmt. Schnell ließ ich mich wieder auf meinen Stuhl sinken. „Ich will hier nicht alleine sitzen bleiben", setzte sie in einem freundlicheren Ton nach. „Wollen wir uns noch ein Eis bestellen?" Eis klang immer gut. Also nickte ich und sie winkte bereits die Bedienung heran. Trotzdem fragte ich mich, was war hier gerade los? Irgendetwas stimmte hier doch gewaltig nicht.

Schuss und Treffer auf der Reservebank Teil 8. ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt