Kapitel 100

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Wieder wurde ich in den Sitz gedrückt und der Gurt straffte sich über meinem Körper „So, wir sind da." Phil schaltete den Motor von meinem Erwin aus, nachdem er mit einer Vollbremsung auf unserer Einfahrt zum Stehen gekommen war. Wusste der eigentlich wie teuer Bremsen waren? Und Reifen? So wie er losgefeuert war und dann immer vollgebremst hatte. Wahrscheinlich schon. Da war er mit seinem Auto wohl Stammgast in der Werkstatt und bekam Sonderkonditionen. Hatte ihm noch keiner gesagt, dass Reifen zum Losfahren nicht durchdrehen mussten? Und die Bremse musste auch nicht durchgetreten werden, wenn man rechtzeitig bremste. So langsam war mir aber klar, warum Tessa ihn nicht mit ihrer Emma fahren ließ. Ich strich kurz entschuldigend über das Armaturenbrett vor mir und versprach meinem Erwin, ihn nie wieder so misshandeln zu lassen. „Der Hobel fährt sich echt krass. Viel sportlicher als mein SUV. Hut ab, dass du mit dem zurecht kommst, so wie der am Gas hängt." Wie hatte der Erwin gerade genannt? Hobel? Ich schaute sauer zu ihm. „Wie viel PS hat er denn? Ist der chipgetuned? Echt eine Wahnsinnsrakete." Wahnsinnsrakete? Okay, das war ein Wort mit dem Erwin und ich gut leben konnten. „Ja, Papa hat ihn tunen lassen. 400 PS", antwortete ich also stolz und öffnete die Beifahrertür, um auszusteigen. Phil hatte am Stadion darauf bestanden mich nach Hause zu fahren, weil ich nach der ganzen Aufregung wohl ziemlich fertig aussah.  „Gib mal her." Phil nahm mir meine Haustürschlüssel aus der Hand und steckte sie ins Schloss. Ja, ich war immer noch total flatterig. War das ein Wunder? Tessa hatte schließlich die Windelpupse bekommen und ich war dabei. Obwohl sie hießen ja gar nicht mehr Windelpupse. „Chrissi und Alli. Wahnsinn", entfuhr es mir heute schon zum keine Ahnung wievielten Mal. „Lucy, du bist total von der Rolle." Phil schaute mich grinsend an und schüttelte seinen Kopf, während er mich ins Haus schob. Von der Rolle? So ein Quatsch. „Das liegt nur an deinem Fahrstil", rechtfertigte ich mich schnell. Wieder grinste er breit „Na, ich musste das doch mal nutzen, wenn ich so einen kleinen Rennhobel unter dem Hintern habe und nicht meinen gediegenen SUV. Der hat auch echt eine geile Lackierung." Rennhobel? Geile Lackierung? Das war ja wieder ein Kompliment für meinen Erwin. Phil war irgendwie echt okay. Wenn der wüsste, dass mein Erwin nächste Woche eine noch viel geilere Lackierung bekam. Papa hatte da schon einen Termin bei einem Airbrush Spezialisten gemacht. „Wo sind denn deine Alten?" Phil schaute sich kurz um. So ruhig wie es hier war, waren Papa und Mama wohl nicht zu Hause. Ich überlegte kurz. „Die sind bei irgendeinem Spezi von Papa zum Essen eingeladen", fiel es mir wieder ein. „Spezi? Ist das nicht so ein komisches Cola Mixgetränk bei euch da unten im Süden?" Ich musste grinsen und nickte „Ja, Cola mit Fanta, aber es heißt auch Kollege, wie hier bei euch" „Ach so, du meinst Kumpel." Diesmal schüttelte ich den Kopf. „Nee, der war nicht im Bergbau. Die kennen sich vom Fussball." Phil lachte los. „Ich habe mich echt schon so an die Berliner gewöhnt. Da ist der Kollege oder Spezi der Kumpel, also gute Freund." Manno, mit diesen ganzen Dialekten war das manchmal echt schon schwierig. Warum sprachen nicht einfach alle bayrisch? Das war leicht verständlich, hörte sich super an und ..... und überhaupt. „Und ist deine Flachpfeife von Bruder da?" Ich zuckte mit den Schultern. „Ich denke nicht." Stand sein Auto in der Auffahrt? Da hatte ich gar nicht darauf geachtet, als Phil meinen Erwin dort eingeparkt hatte. Aber Flachpfeife..... das konnte ich so ja irgendwie auch nicht stehen lassen. „Also Luca..." Phil winkte ab. „Der klebt bestimmt wieder an meiner Schwester, was frage ich überhaupt." So wie es aussah, war er nur mittelprächtig begeistert, dass die beiden so viel zusammen waren. Eigentlich hatte ich immer geglaubt, dass mein Bruder schon fast ein Mitglied der Familie Reus war. „Setz dich auf das Sofa. Ich mache dir erst einmal einen Tee und etwas zu essen." Ohne mich weiter zu Wort kommen zu lassen, schob er mich ins Wohnzimmer und drückte mich sanft in die Polster. „Du weißt doch aber gar nicht..." Wieder winkte er nur ab „Eine Küche ist wie die andere. Ich werde wohl schon noch etwas Wasser zum Kochen bringen und den Kühlschrank erkennen und plündern können." Ja, gut. Da hatte er auch wieder recht. Keine Minute später hörte ich Geschirr klappern. Meine Gedanken wanderten zu Tessa ab. Ob sie wohl schon in ihrem Krankenhauszimmer lag und die Babys anhimmelte? Bestimmt konnten Leo und sie gar nicht aufhören die beiden Knautschgesichter anzuschauen. „Hier" Phil stellte ein Tablett mit einer dampfenden Tasse Tee und einem Teller mit jeder Menge Broten vor mir ab. „Danke." Wieso hörte sich meine Stimme denn schon wieder so dünn an? Und wieso hatte ich schon wieder so einen dicken Kloß im Hals? Ehe ich mich versah, schmiss sich Phil neben mir auf die Couch. „Danke, dass du mich gefahren hast", schniefte ich. Verflucht, was war heute nur mit mir los? „Kein Ding. Und welchen Film schauen wir jetzt?" Phil legte einen Arm um meine Schulter und fischte sich eins von den Broten vom Teller. „Boah, sind die lecker. An mir ist ein echter Meisterkoch verloren gegangen", schmatzte er in meine Richtung. Ich musste lachen. „Brote schmieren ist nicht kochen."  „Aber fast, du undankbarer kleiner Troll!" Er fing an mich zu kitzeln und ich quietschte wie ein angestochenes Kalb. Boah, das konnte ich ja so nicht stehen lassen. Also begann ich mich zu wehren und boxte zurück. „Ah, du gewalttätiger kleiner Troll!" Phil rieb sich mit schmerzverzogenem Gesicht seine Seite. Da hatte ich wohl einen Volltreffer gelandet. Ich fing an zu grinsen. „So gefällst du mir schon viel besser." Er legte wieder seinen Arm um meine Schulter. „Also Film?" Ich griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher an. „Wo willst du hin?" Phil hielt mich an meiner Hand fest, als ich aufsprang. „Popcorn holen", grinste ich. Was war denn ein Film ohne Popcorn? Das ging ja mal gar nicht. „Und ein Spezi", lachte ich noch. Phil schüttelte nur grinsend den Kopf. „Du bist genauso ein krankes Huhn wie Tessa." Bei dem Namen meiner Freundin konnte man hören, wie sehr Phil sie mochte. Ja, er war ja auch ihr Lieblingsbruder. Die beiden verband irgendetwas. Und so langsam konnte ich auch verstehen was. Das war wie bei Luca und mir. Große Brüder halt.

Schuss und Treffer auf der Reservebank Teil 8. ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt