Teil 97

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Es war beinahe Mitternacht, als Sam in den Aufzug des Hauses stieg, in dem sich ihre Wohnung befand. Sie drückte den Knopf, mit dem der Aufzug sie ins Dachgeschoss brachte, lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. Wäre es möglich gewesen, hätte sie im Büro übernachtet, um gar nicht erst nach Hause zu müssen, und wäre es möglich gewesen, würde sie gar nicht erst schlafen, sondern würde 24 Stunden durcharbeiten, denn nur so schien sie nicht ständig an Chris denken zu müssen. Im Büro war sie immer mit irgendwas beschäftigt, doch sobald sie zu Hause war oder in ihrem Bett lag, kamen die Erinnerungen mit einer Heftigkeit zurück, die ihr fast den Atem raubte. Das war auch der Grund, weshalb sie in den meisten Nächten auch nie mehr als 3 oder 4 Stunden schlief. Egal, wie erschöpft sie war, irgendwann tauchten unweigerlich diese Träume auf, die sie aus dem Schlaf rissen und sie nicht mehr einschlafen ließen. Träume von Chris, in denen er bei ihr war und in denen sie sich so glücklich wie schon lange nicht mehr fühlte. Das waren die besseren Träume. Dann waren da noch diese, in denen sie von dem Tag träumte, als Eastwood Paul erschossen hatte, nur dass es nicht Paul war, sondern Chris, der blutend zusammenbrach und in ihren Armen starb. Diese Träume waren auch der Grund, weshalb sie nach dem Pflichttermin beim Psychologen gleich weitere Termine vereinbart hatte und auch regelmäßig hinging. Das hatte ihr schon nach Pauls Tod geholfen, weswegen sie hoffte, dass es ihr auch jetzt, nach der Trennung von Chris, half.
Als die Fahrstuhltüren sich mit einem leisen „Ding" öffneten, schreckte Sam hoch. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie eingedöst war. Gähnend verließ sie die Kabine des Aufzugs und ging zu ihrer Wohnungstür, als sie plötzlich wie erstarrt stehenblieb und zu der zusammengesunkenen Person sah, die davor auf dem Boden saß. Einen Moment lang dachte sie, ihre übermüdeten Augen spielten ihr einen Streich, doch auch, nachdem sie sie kurz zusammengekniffen hatte, änderte sich nichts daran, was sie sah. Es war Chris, der schlafend mit dem Rücken an der Tür lehnte, seine Reisetasche und einen Strauß Rosen, von denen vielen bereits die Köpfe hängenließen, neben sich. Ihr Herz raste, als sie langsam zu ihm ging und sich neben ihn hockte.
„Chris?" fragte sie leise und musste sich räuspern, als ihre Stimme ihr nicht gehorchen wollte.
„Chris?" fragte sie erneut und streichelte über seine Wange.
„Hhm?"
Er schreckte hoch und blinzelte sie verschlafen an, ehe er lächelte.
„Hey Babe," begrüßte er sie mit verschlafener Stimme.
„Was machst du hier? Wie lange bist du schon hier?" wollte Sam, immer noch völlig überrascht, wissen.

Chris blinzelte kurz auf seine Armbanduhr, wobei Sam auffiel, dass er ihr Armband noch immer trug.
„Etwa 5 Stunden," antwortete er schließlich und sah sie wieder an.
„Arbeitest du immer so lange?"
„In letzter Zeit schon," meinte sie ausweichend.
„Komm, lass uns reingehen."
Sie stand wieder auf und beobachtete Chris dabei, wie er ebenfalls aufstand und seine Reisetasche nahm. Es kam ihr völlig unwirklich vor, ihn hier zu sehen. Sie hätte nie gedacht, dass das mal passieren würde. Nachdem sie sich wieder etwas gefangen hatte, schloss sie die Wohnungstür auf, ging hinein, machte Licht und ließ Chris ebenfalls eintreten, ehe sie die Tür wieder schloss.
Sie stellte ihre Aktentasche ab, ohne ihren Blick von ihm zu nehmen. Chris sah sich derweil in ihrer Wohnung um, die im Prinzip aus einem großen Wohnbereich mit einer großzügigen Küchenecke und einem separaten Schlafzimmer und Bad bestand. Er sah lächelnd zu ihr.
„Sieht gemütlich aus," stellte er fest.
„Das ist es," stimmte Sam ihm zu und sah sich ebenfalls um.
„Es lässt sich gut wohnen hier, aber irgendwie ist es kein Zuhause mehr," fügte sie leise hinzu und sah traurig zu ihm.
Chris erwiderte ihren Blick einige Momente, ehe er auf sie zu kam, seine Hände an ihre Wangen legte und sie zärtlich küsste. Sam erwiderte seinen Kuss zärtlich, wobei sie sich an ihn klammerte wie eine Ertrinkende an einen Rettungsring, der sie über Wasser hielt, damit sie endlich wieder atmen konnte.

„Du bist nicht mehr sauer auf mich?" fragte Sam etwas später vorsichtig, als sie auf der Couch saßen.
Chris schüttelte den Kopf.
„Ich glaube, das war ich nie. Eher enttäuscht. Sauer war ich auf mich selbst, weil ich nichts gemerkt habe," erklärte er.
„Es tut mir leid, wie ich mich verhalten habe. Es war in dem Moment einfach zu viel und ich habe überreagiert."
„Schon okay," meinte Sam leise und sah ihn an.
„Ich kann es verstehen. Es tut mir leid, dass ich dich angelogen habe."
„Du hattest einen guten Grund," erwiderte Chris schlicht und griff nach ihrer Hand, die er leicht drückte.
„Wie kommt es, dass du so denkst? Wenn ich da zwei Wochen zurückdenke.."
Sam schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht zwei Wochen zurückdenken.
„Ich hatte viel Zeit, um nachzudenken und außerdem hat man mir ein paar Mal richtig den Kopf gewaschen," antwortete er und grinste schief.
Sam sah ihn überrascht an.
„Wer?"
„Naja, Snake, Cobra, Mustang, Muskrat und ein paar andere. Sie haben mich mehr als einmal einen Idioten genannt. Oh, und ‚australischer Holzkopf'. Das kam von Cobra," grinste Chris und Sam musste lachen.
„Dann nehmen es die Serpents mir nicht übel?" fragte sie nach.
Chris schüttelte lächelnd den Kopf.
„Nein. Sie waren zwar geschockt, als FP und ich ihnen erzählt haben, dass Lily und du FBI-Agents seid, aber sie waren auch froh, dass ihr den Fall aufklären konntet und der Gang damit geholfen habt. Apropos Lily: Sie war gestern Abend auch noch in der Bar und hat mit mir gesprochen."
„Hast du irgendwas von ihr und FP gehört?" fragte Sam besorgt.
„Nein, aber als ich heute morgen ganz früh zum Flughafen gefahren bin, stand ein fremdes Auto vor FPs Trailer. Ich nehme an, dass das ihr Mietwagen war. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen," antwortete er leicht grinsend.
„Das hoffe ich doch," meinte Sam und sah kurz auf ihr Handy, aber Lily hatte sich nicht gemeldet.
Chris sah sich wieder in der Wohnung um.
„Hast du hier mit Alex.. ich meine, mit Paul gewohnt?" fragte er sie und sah zu ihr.
Sam schüttelte den Kopf.
„Nein. Wäre es so gewesen, würde ich hier nicht mehr wohnen," erklärte sie.
„Ich bin kurz nach seinem Tod eingezogen. Wir hatten ein kleines Haus etwas außerhalb von New York, aber dort konnte ich nicht bleiben. Zu viele Erinnerungen."
„Verstehe ich," sagte Chris leise und drückte ihre Hand.
Sam stand auf.
„Komm mal mit, ich muss dir was zeigen," schmunzelte sie und zog ihn von der Couch.
Sie führte ihn ins Schlafzimmer, wo sie zu einer Tür ging, die sie aufschloss und die auf einen kleinen Balkon führte. Eine Art Feuerleiter führte von dort nach oben aufs Dach.
„Wow, das ist eine atemberaubende Aussicht," entfuhr es Chris, als sie beide nur wenig später auf der Dachterrasse standen.
Von Himmel funkelten die Sterne, während unten das hell erleuchtete New York zu sehen war. Es war tatsächlich die Stadt, die niemals schlief.
„Dahinten ist das Empire State Building," sagte Sam und deutete zu einem hohen Gebäude.
„Und nicht weit daneben ist der Times Square. Ich bin im Sommer oft hier oben und bewundere die Aussicht. Ich kann davon nicht genug bekommen. Momentan ist das auch das einzig Positive für mich an New York."
„Ich habe sogar noch eine viel bessere Aussicht," schmunzelte Chris und sah sie an.
Er legte die Arme um sie und zog sie an sich.
„Ich muss sogar zugeben, dass mir dein FBI-Outfit gefällt, auch wenn es etwas streng ist."

„Ach ja? Gefällt es dir mehr als mein Biker-Outfit?" fragte Sam amüsiert und legte ihre Arm um seinen Hals.
„Nein, auf keinen Fall," antwortete Chris wie aus der Pistole geschossen.
Sie mussten beide lachen.

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