Teil 16

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Am nächsten Morgen um halb 11, in ihrer halbstündigen Pause, machte Lily sich auf den Weg zum Gelände des Bauunternehmens von Fred Andrews, dessen Adresse sie von Pop bekommen hatte. Sie konnte und wollte nicht warten, bis FP ins Diner kam, falls er überhaupt vorbeikam. Sie wollte das zwischen ihnen unbedingt klären und das konnte einfach nicht bis zu ihrem Feierabend warten. Sie parkte ihren Camaro neben dem Bauwagen, der scheinbar als Büro diente, und stieg aus, was mit anerkennenden Pfiffen von ein paar Bauarbeitern begleitet wurde, die gerade mit ein paar Geräten vorbeigingen. Erst in diesem Moment wurde Lily bewusst, dass sie sich gar nicht erst die Mühe gemacht und sich umgezogen hatte, und sie nun in ihrem Diner-Outfit auf einer Baustelle stand. Na super. Sie schlug die Autotür zu und ging zum Bauwagen, wo sie an der Tür klopfte. nur Sekunden später ertönte eine männliche Stimme.
„Herein."
Lily atmete nochmal tief durch und öffnete die Tür. Sie betrat den Bauwagen und stand nun einem Mann gegenüber, der in etwa in FPs Alter war und der an einem Schreibtisch saß, der über und über mit Papieren bedeckt war.
„Hi. Mr. Andrews?"
Der Mann nickte.
„Wie kann ich helfen?"
„Ich bin Lily, eine Bekannte von FP. Ich bin auf der Suche nach ihm, weil ich dringend mit ihm sprechen müsste. Wissen Sie, wo er gerade ist?" fragte sie und spielte nervös mit ihrem Autoschlüssel.
„Nein, leider nicht. Er ist heute nicht zur Arbeit aufgetaucht," antwortete Mr. Andrews.
„Oh," sagte Lily nicht unbedingt intelligent.
„Nicht, dass es mich überraschen würde," fügte er hinzu, schüttelte dann aber den Kopf.
„Haben Sie es schon an seinem Trailer versucht? Vermutlich ist er dort. Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm bitte, dass er sich bei mir melden soll."
„Nein, da war ich noch nicht, weil ich ja davon ausgegangen bin, dass er bei der Arbeit ist," antwortete Lily.
„Aber danke für den Tipp. Ich werde es ihm ausrichten."
Sie verließ den Bauwagen und ging zurück zu ihrem Auto. Dass er nicht zur Arbeit aufgetaucht war, machte ihr ein wenig Sorgen. Hoffentlich war ihm nichts passiert. Andererseits schien es wohl öfter vorgekommen zu sein, dem Kommentar von Mr. Andrews nach zu urteilen. Lily stieg ein und fuhr los Richtung Trailerpark. Dort angekommen parkte sie neben seinem Truck und der Harley und stieg aus. Scheinbar war er tatsächlich zu Hause. Lily ging zur Tür und klopfte, während sie sich umsah. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, jedes Mal beobachtet zu werden, wenn sie hier war. Vielleicht war es Blödsinn, aber in der Vergangenheit hatte sie gelernt, sich auf ihr Gefühl zu verlassen und hatte nur selten daneben gelegen.
Sie klopfte erneut, als sich nichts im Trailer regte und drückte die Klinke runter, als immer noch keine Antwort kam. Die Tür war unverschlossen. Sie sah sich nochmal kurz um, ehe sie den Trailer betrat, wäre jedoch am liebsten rückwärts wieder rausgegangen, als ihr abgestandene Luft entgegenschlug, in der jede Menge Alkoholdunst lag. So schlimm war es noch nicht mal am Wochenende in der Bar, wenn sie rappelvoll war.
Lily öffnete die Tür ganz, damit frische Luft reinkam und machte noch einen Schritt in den Trailer.
„FP? Bist du hier?" fragte sie und sah sich im Wohnbereich um, der leer war.
„FP?"
Sie ging zur Schlafzimmertür und wappnete sich innerlich vor allen möglichen Szenarien, die sie erwarten würden, wenn sie die Tür öffnete, doch auch das Schlafzimmer war leer. Das konnte doch gar nicht sein. Wo, wenn nicht hier, sollte FP sonst sein? Immerhin standen seine Fahrzeuge vor dem Trailer. In diesem Moment hörte sie Geklapper von Glas aus dem Küchenbereich und sie ging mit großen Schritten hin.
„Scheiße," murmelte sie vor sich hin, als sie FP betrunken und wie ein Häufchen Elend auf dem Boden neben dem Kühlschrank sitzen sah, umgeben von leeren Bierdosen und Bierflaschen. Dazwischen konnte sie auch zwei leere Whiskey-Flaschen entdecken.
Sie schob die leeren Dosen mit dem Fuß auf Seite und hockte sich neben FP, der sie mit kleinen, glasigen Augen ansah. Seine Haare waren ein einziges Durcheinander und seine Kleidung wies einige undefinierbare Flecken auf. Er trank jedenfalls nicht erst seit ein paar Stunden.
„Hey Prinzessin, willkommen in meinem Reich," sagte er mit schwerer Zunge und breitete die Arme aus.
Lily musste sich zwingen, sich nicht von ihm abzuwenden, als ihr seine Alkoholfahne entgegenschlug.
„Sorry, wenn ich gewusst hätte, dass du vorbeikommst, hätte ich aufgeräumt," fügte er hinzu, griff nach einer der leeren Dosen und schüttelte sie.
Lily nahm sie ihm aus der Hand und stellte sie auf Seite.
„Komm, steh auf," meinte sie und griff unter seinen Arm, um ihm beim Aufstehen zu helfen, doch dass FP sich hängen ließ wie ein nasser Sack, half ihr nicht wirklich.
„Laß mich. Geh. Das tun sie ja eh alle. Gladys, Jughead, Jellybean, du.."
Er zählte die Namen an den Fingern seiner Hand ab, wobei es ihm schwerfiel, die Augen offen zu halten.
„Verdammt nochmal, reiß dich zusammen, FP," fuhr Lily ihn an.
„Ich gehe nirgendwohin, sonst wäre ich wohl kaum hier und hätte die halbe Stadt nach dir abgesucht. Schönen Gruß übrigens von Mr. Andrews. Du sollst dich bei ihm melden."
FP sah sie stumm an, sprang jedoch plötzlich unbeholfen auf und stürzte schwankend ins Bad, wo er sich nur Sekunden später übergab. Lily verzog das Gesicht und schloß die Augen. Gott, worauf hatte sie sich da nur eingelassen? Von dem Mann, den sie kennengelernt hatte, war an diesem Morgen nichts zu sehen. Sie seufzte und stand auf. Während FP sich noch mehrmals geräuschvoll übergab, machte sie sich daran, die leeren Dosen und Flaschen einzusammeln, die sie in einem großen Müllsack stopfte. Anschließend sah sie in den Kühlschrank, aus dem sie die restlichen Bierdosen nahm und sie ebenfalls in den Müllsack steckte. Auch in den restlichen Küchenschränken fand sie vereinzelt Bierflaschen und noch eine volle Flasche Whiskey, die ebenfalls in den Müllsack wanderten. Kurz dachte sie nach, was sie mit dem Müllsack machen sollte und brachte ihn kurzerhand nach draussen zu ihrem Camaro, wo sie ihn in den Kofferraum lud. Sie würde ihn in den großen Müllcontainern bei Pops entsorgen. Oh je, Pops. Lily sah auf ihre Uhr und sah, dass sie nur noch 5 Minuten Pause hatte. Klasse.
Sie ging zurück in den Trailer, wo FP gerade aus dem Bad gewankt kam und sich mit dem Ärmel seines Hemdes über den Mund wischte.
„Geht es dir jetzt besser?" fragte sie.
FP nickte nur und steuerte leicht schwankend die Küche an, wo er den Kühlschrank öffnete.
„Da wirst du nichts finden und in den anderen Schränken auch nicht," informierte Lily ihn, woraufhin er die Kühlschranktür wieder schloss und sich mit der Stirn dagegen lehnte.
Lily ging zu ihm und streichelte über seinen Rücken. FP zuckte leicht zusammen.
„Geh," sagte er leise mit gepresster Stimme.
„Nein, das werde ich nicht machen," antwortete sie, obwohl sie selbstverständlich zurück zum Diner musste.
Er drehte sich zu ihr um und blickte sie mit geröteten Augen an.
„Warum nicht? Das machen doch sonst alle."
„Ja, das sagtest du eben schon, aber ich bin nicht alle, FP. Ich möchte dir helfen," antwortete Lily ruhig.
„Warum? Ich bin ein Nichts. Ein Loser, der nichts auf die Reihe bekommt. Du solltest deine Zeit nicht mit mir verschwenden, glaub mir," erwiderte er bitter.
„Wie ich meine Zeit verbringe, solltest du schon mir überlassen," konterte Lily und trat näher an ihn heran.
„Ich bin hier, FP, und ich bleibe. Ich werde dir helfen, wenn du mich lässt."
Sie sah ihn eindringlich an und er erwiderte ihren Blick schweigend, ehe er nickte.
„Okay. Komm, du solltest erstmal deinen Rausch ausschlafen. Danach sehen wir weiter."
Lily griff nach seiner Hand und gemeinsam gingen sie in sein Schlafzimmer, wo sie ihm dabei half, die dreckigen Klamotten auszuziehen. Als er im Bett lag, deckte sie ihn zu und verließ das Schlafzimmer, um im Bad nach Aspirin zu suchen. Das würde er sicherlich brauchen, wenn er aufwachte. Glücklicherweise fand sie eine volle Packung, die sie ihm mit einem Glas Wasser auf den Nachttisch stellte. Nach kurzer Überlegung stellte sie auch noch einen Eimer neben sein Bett für den Fall, dass er sich wieder übergeben musste und es nicht rechtzeitig ins Bad schaffte.
Sie beobachtete ihn einige Momente, bevor sie sich zu ihm runterbeugte und ihm einen Kuss auf die Schläfe hauchte. Sie wollte gerade gehen, als eine Hand unter der Bettdecke hervorschnellte und sie am Arm festhielt.
Lily sah zu ihm. FP hatte die Augen geschlossen.
„Danke," murmelte er.
„Ich komme später nochmal vorbei nach Feierabend, okay?"
Er nickte und ließ ihren Arm los.
Leise verließ Lily das Schlafzimmer und anschließend den Trailer, wo sie einmal tief durchatmete, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sie ging zum Auto und stieg ein, konnte jedoch nicht gleich losfahren. Zu sehr hatte sie das geschockt, was sie gerade erlebt hatte. Wieder mal fragte sie sich, worauf sie sich da eingelassen hatte.

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