Teil 46

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Genau eine Stunde später lehnte sie gegen das Geländer des Piers, der weit in den Pazifischen Ozean hineinragte, und beobachtete die Wasseroberfläche, was einen beruhigenden und leicht hypnotischen Effekt hatte. Sie hätte wirklich ewig hier stehen und auf das Meer hinausschauen können. Noch ein Grund, New York den Rücken zuzukehren.
Sie hatte etwa 10 Minuten dort gestanden, als sie merkte, wie sich jemand neben ihr gegen das Geländer lehnte. Sie warf einen kurzen Blick neben sich. Es war Josh, der mit dem Rücken zum Ozean stand und die Leute beobachtete.
„Du wolltest mit mir reden?" fragte er.
„Jepp. Ich würde gerne wissen, was dieser Auftritt heute Nacht in der Bar sollte. Dir ist schon klar, dass mich sowas auffliegen lassen könnte, oder? Und nicht nur mich, Lily auch," antwortete sie, während sie weiter aufs Meer sah.
„Natürlich ist mir das klar. Vielleicht ist das ja mein Ziel. Immerhin seid ihr schon seit Wochen hier, ihr habt herausgefunden, dass Jones und Hemsworth scheinbar unschuldig sind und somit ist der Job in meinen Augen erledigt," meinte er schlicht.
„Scheinbar? Die beiden sind unschuldig," stellte Sam gleich richtig, aber Josh winkte nur ab.
„Was auch immer. Der Job ist erledigt. Es ist Zeit, nach New York zurückzufliegen. O'Connor sieht das genauso."
Sam sah aufgebracht zu ihm.
„Bitte? Du hast mit O'Connor darüber geredet?"
„Natürlich. Er ist unser Boss, schon vergessen? Er ist zufrieden mit eurer Arbeit. Immerhin wissen wir jetzt, wer hinter dem Drogengeschäft steckt. Den Rest erledigt das FBI," antwortete Josh und schob sich die Sonnenbrille in die Haare.
Sam schüttelte den Kopf und sah wieder aufs Meer.
„Was denn? Passt dir das nicht? Ich meine, mir ist schon klar, dass du deinen Lover nur ungern hier zurücklassen willst. Du kannst übrigens froh sein, dass ich O'Connor davon nichts erzählt habe. Der hätte sonst alles infrage gestellt und Hemsworths Unschuld angezweifelt. Das Gleiche gilt für Lily und Jones. Was ist eigentlich daraus geworden, alles professionell zu halten? Aber nein, kaum kommen ein paar dahergelaufene Kerle vorbei, macht ihr die Beine breit und ihr werdet sogar dafür bezahlt. Da wo ich herkomme, nennt man diesen Beruf nicht ‚FBI-Agent'," stichelte Josh, während er sich etwas zu Sam rüberlehnte.
Sie sah ihn wütend an und hätte ihm am liebsten für seine Worte eine Ohrfeige verpasst, doch das wäre hier, selbst zwischen all den Leuten, zu auffällig gewesen.
„Erstens sind die beiden keine dahergelaufenen Kerle. Sie sind vielleicht Mitglied einer Gang und wohnen in einem Trailerpark, aber sie gehen ganz normalen und legalen Berufen nach und sie arbeiten hart, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Zweitens kann man nichts gegen Gefühle tun. Sie sind einfach da. Meinst du, ich hätte mir das ausgesucht? Oder Lily? Ganz sicher nicht. Und beiden ist klar, dass Chris und FP vermutlich nie wieder was mit uns zu tun haben wollen, wenn sie erstmal wissen, wer wir sind und was wir bei ihnen machen, aber gegen Gefühle kann man einfach nichts tun. Und ganz ehrlich? Ich bin froh, dass ich mich in Chris verliebt habe und weißt du warum? Weil ich jetzt weiß, dass dieser Teil in mir, der lieben kann, nicht mit Paul gestorben ist und dass ich jemand anderes in mein Herz lassen kann. Du hast doch keine Ahnung, wie oft ich an mir selbst gezweifelt habe, weil ich kein Interesse an irgendeinem Mann in New York hatte. Ich habe wirklich gedacht, ich wäre nie wieder fähig, jemand anders zu lieben. Hast du überhaupt eine Ahnung, was für ein beschissenes Gefühl das ist? Nein, hast du nicht. Also hör auf, über mich zu urteilen," redete sie wütend auf ihn ein.
„Doch, ich weiß sehr wohl, was für ein Gefühl das ist," antwortete Josh und sah sie an.
„Oh bitte.."
Sam verdrehte die Augen und sah aufs Meer.
„Ich habe vielleicht niemanden verloren, den ich liebe, aber jemanden zu lieben, von dem man weiß, dass sie die Gefühle nie erwidern wird und stattdessen mit irgendeinem Kerl was anfängt, ist genauso beschissen. Denn ich weiß auch nicht, ob ich überhaupt dazu fähig bin, irgendjemand anderes zu lieben. Du gehst mir einfach nicht aus dem Kopf, Sam. Ich hab's versucht. Ich habe es wirklich versucht. Vor allen Dingen deswegen, weil du Paul, deine große Liebe, verloren hast. Ich habe mir gedacht, dass ich einfach nur Geduld haben muss, bis du darüber hinweg bist und dass du dann schon sehen würdest, dass ich der Richtige für dich bin, aber nein, du fängst was mit irgendeinem Barbesitzer an. Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein Schlag ins Gesicht das für mich war. Ich war immer für dich da, Sam. Nach Pauls Tod konntest du immer zu mir kommen und ich war gerne für dich da. Aber so dankst du es mir? Dass du was mit so einem Kerl anfängst? Sorry, aber das kann ich nicht akzeptieren," erwiderte Josh und Sam ihn sprachlos an.
Sie hatte wirklich mit allem gerechnet, aber sicher nicht mit dem, was er da gerade gesagt hatte. Josh liebte sie?
„Überrascht?" fragte Josh und sah sie mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen an.
„Dann kannst du dir ja vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als mir klar wurde, dass du mit diesem Hampelmann ins Bett gehst."
Sam schüttelte fassungslos ihren Kopf, während sie versuchte, die richtigen Worte zu finden, aber das, was Josh da von sich gegeben hatte, machte sie schlichtweg sprachlos. Nicht so sehr, dass er sie angeblich liebte, sondern die Tatsache, dass er offensichtlich von ihr erwartete, dass sie sich bei ihm revanchierte für seine Hilfe nach Pauls Tod. Das was wirklich unfassbar. Sie hatte ihn immer für einen guten Freund gehalten. Die Erkenntnis, dass sein ganzes Verhalten nur Berechnung war, traf sie noch mehr als seine Worte.
„Hör zu, Josh.. Ich bin dir wirklich dankbar für deine Hilfe nach Pauls Tod und dafür, dass du immer für mich da warst, und das habe ich dir auch oft gesagt. Aber du kannst dafür nicht erwarten, dass ich.. was? Mit dir ins Bett gehe? Sorry, aber das kannst du wirklich vergessen. Wenn es wirklich so sein sollte, dass du mich liebst, dann tut es mir leid, wenn ich dir irgendwie wehgetan haben sollte, aber das war wirklich keine Absicht. Niemand kann steuern, wen er liebt und wen nicht. Auch ich nicht. Das mit Chris ist einfach passiert. Meinst du wirklich, ich hätte mir, wenn ich könnte, ausgesucht, mich in den Hauptverdächtigen eines Falles zu verlieben? Mit Sicherheit nicht. Das alles ist schon kompliziert genug für mich. Und wenn du mich wirklich liebst, solltest du in erster Linie froh sein, dass ich glücklich bin. Egal mit wem und auch wenn es dir schwerfällt. Solche Aktionen wie heute Nacht in der Bar gehen gar nicht und dass du mich wirklich auffliegen lassen willst anstatt dich für mich zu freuen, bewirkt eigentlich nur, dass ich nichts mehr mit dir zu tun haben will. Klar, jetzt lässt es sich nicht vermeiden, aber sobald der Job erledigt ist, will ich keinen Kontakt mehr zu dir."
Josh sah sie an.
„Könnte schwierig werden, wenn wir beide beim FBI arbeiten," meinte er nur.
„Stimmt. Wenn wir beide weiterhin in New York arbeiten. Ich werde mich allerdings hier nach LA versetzen lassen. Zum schnellstmöglichen Termin," erklärte Sam ihm.
Josh sah sie einige Momente schweigend an.
„Ich glaube nicht, dass Hemsworth dich noch hier will, wenn er erstmal weiß, wer du bist und dass du ihn angelogen hast," sagte er schließlich.
„Und das muss er noch nicht mal von mir erfahren. Sobald der Job erledigt ist, erfährt er es so oder so."
„Ich werde mich völlig unabhängig von ihm nach LA versetzen lassen. Es hat rein gar nichts mit ihm zu tun. Das habe ich schon beschlossen, bevor ich mich in ihn verliebt habe," erwiderte Sam kühl.
„In New York hält mich nichts mehr. Jetzt, nachdem du dich als Arschloch entpuppt hast, schon gar nichts mehr."
Josh schob sich die Sonnenbrille wieder auf die Nase und stieß sich vom Geländer ab.
„Wie gesagt, euer Job hier ist erledigt. Agent Carter will uns morgen Mittag alle im HQ sehen," meinte er nur.
„Abwarten. Ich werde ihn nachher noch anrufen, mit ihm über den Fall sprechen und ihm klarmachen, dass Lily und ich hier noch lange nicht fertig sind, " antwortete Sam.
Josh stieß ein teils amüsiertes und teils bitteres Lachen aus.
„Schon traurig, wie du versuchst, den Moment hinauszuzögern, in dem dein Chris erkennt, wer du wirklich bist."
„Schon traurig, dass du so ein eiskaltes Arschloch bist. Paul wäre enttäuscht von dir," konterte Sam, ließ Josh einfach stehen und machte sich auf den Weg zum Parkplatz, wo sie ihre Harley abgestellt hatte. Innerlich kochte sie vor Wut und auch vor Enttäuschung. Sie konnte es immer noch nicht glauben, dass sie Josh so falsch eingeschätzt hatte, aber daran konnte sie sich jetzt nicht weiter aufhalten. Sie musste zurück zum Trailerpark und Agent Carter anrufen. Das hatte absoluten Vorrang. Vor allen Dingen musste sie Lily davon erzählen.

„Bitte was? Der Job ist noch nicht erledigt. Wir bekommen hier doch viel mehr Infos raus als das FBI. Vor allen Dingen, wenn man bedenkt, wie unfähig die hier sind," meinte Lily aufgebracht, nachdem Sam ihr erzählt hatte, was Josh ihr mitgeteilt hatte.
Und ja, sie dachte eigentlich in erster Linie daran, dass sie noch nicht dazu bereit war, FP die ganze Wahrheit zu erzählen. Wenn sie überhaupt jemals dazu bereit sein würde. Sie bezweifelte es. Schon gar nicht konnte sie ohne eine Erklärung einfach verschwinden. Das kam ihr erst recht unrecht vor. FP verdiente eine Erklärung, auch wenn diese ihn vollkommen schockieren würde.
„Sag nicht mir das. Ich werde Agent Carter anrufen und ihm alles erklären. Josh und Duncan können ja gerne zurück nach New York fliegen, aber wir beide bleiben," sagte Sam entschlossen, nahm ihr Handy und verließ den Diner.
Lily sah ihr nach und atmete tief durch. Nein, es konnte nicht sein, dass ihr Job hier schon erledigt war.
Sie sah Sam erwartungsvoll an, als sie den Diner nach einer gefühlten Ewigkeit wieder betrat.
„Alles in Ordnung. Ich konnte Agent Carter klarmachen, dass wir hier noch gebraucht werden und dass wir hier eher an Informationen kommen, um Eastwood und Penny festzunageln," teilte sie Lily mit, die erleichtert aufatmete.
„Super. Hoffentlich hält Josh dicht."
„Das sollte er besser," meinte Sam.
„Okay, ich muss los. Wenn Chris noch nicht zurück ist von seinen Terminen, muss ich in einer Stunde die Bar aufmachen. Wir sehen uns später?"
„Ja klar," antwortete Lily und sah ihr nach, als sie den Diner verließ.

„Lily, kann ich dich mal kurz sprechen?"
Sie sah neben sich, wo Pop auf einmal stand und sie ernst ansah.
„Natürlich, worum geht es?"
„Ich weiß, es geht mich nichts an und offiziell weiß ich auch gar nichts. Also dass du und deine Freundin vom FBI seid und hier undercover ermittelt. Ich wollte vorhin auch gar nicht lauschen, ich habe es einfach mitbekommen," fing er an und knetete das Geschirrtuch, dass er in beiden Händen hielt.
„Das ist schon okay, Pop. Solange du weiterhin offiziell nichts weißt," schmunzelte Lily.
„Es ist nur so.. Ich habe so den Verdacht, dass ihr gegen FP Jones und seinen besten Freund ermittelt. Warum auch immer. Das geht mich nichts an. Ich will nur sagen, dass ich für die beiden meine Hand ins Feuer legen würde. Die beiden sind immer freundlich und haben mir schon mehr als einmal mit verschiedenen Sachen geholfen. Außerdem haben beide ziemlich schwere Zeiten hinter sich und ich möchte einfach sicherstellen, dass ihnen nichts Unrechtes widerfährt. Das haben sie nicht verdient," fuhr er fort und Lily war wirklich gerührt von seinen Worten.
„Pop, ich darf wirklich nicht über laufende Ermittlungen reden, aber FP und Chris sind in Ordnung. Das wissen Sam und ich. Also keine Sorge. Du solltest dem FBI ein bißchen vertrauen," sagte Lily schmunzelnd.
„Da bin ich aber froh," lächelte Pop, wurde jedoch gleich wieder ernst.
„Ich hoffe auch, dass du und Sam ihnen nicht wehtun werdet. Wie gesagt, das haben sie nicht verdient."
„Das ist das Letzte, was Sam und ich im Sinn haben, glaub mir, und wir werden es vermeiden, wenn es geht," antwortete Lily, aber sie wusste jetzt schon, dass es unumgänglich war.
„Okay. Nur eins noch: Es wird schade sein, wenn du demnächst nicht mehr hier arbeitest. Du machst gute Arbeit," sagte er ihr.
„Danke," lächelte Lily und umarmte Pops kurz.
„Ich werde die Arbeit hier sicher auch vermissen. Sie macht Spaß. Aber noch bin ich ja nicht weg."
„Und das ist gut so," schmunzelte Pop, bevor er wieder in der Küche verschwand.
Lily seufzte. Wie sollte sie bloß wieder zurück nach New York gehen und ihrem Job beim FBI nachgehen, wenn ihr die Menschen hier so ans Herz wuchsen?

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