Wilhelmina XXVIII | dreidimensional

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20 Jahre zuvor

Wilhelmina drehte sich um und blickte Eamon an. Die dunklen, braunen Augen, das markante Kinn, die kleine mondförmige Narbe, alles an seinem Gesicht war ihr so vertraut. Einige Sekunden lang trafen sich ihre Augen und verharrten in diesem Moment, als würde niemand anderes ihn zerstören können.

Doch schließlich hörten sie Schritte in der Stallgasse und der junge Bursche, den sie bei Betreten des Stalles gesprochen hatte, erschien hinter Eamon in Willows Blickfeld.

„Ich bin heute die Vertretung für Aaron. Sir Gadriel hat mich gebeten, die Stallführung zu übernehmen und Mr McGrath das Gelände zu zeigen", sagte er und schien nicht zu bemerken, in welchen Augenblick er gerade hineingeraten war. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, dass Wilhelmina und Eamon sich kannten, und war dementsprechend unbekümmert.

Willow zwang sich dazu, ihren Blick von Eamon zu lösen und nickte mechanisch mit dem Kopf.

Der Stallbursche putzte sich seine Hände an der Arbeitshose ab und lehnte die Mistgabel, die er gerade noch in der Hand gehalten hatte, an eine der Boxentüren. „Brauchen Sie noch einen Moment, Majestät, oder soll ich gleich anfangen?"

Wilhelmina straffte die Schultern und schüttelte den Kopf. „Wir sind hier fertig", erwiderte sie, strich ihr Oberteil glatt und trat vorbei an Eamon in die Stallgasse.

„In Ordnung. Ich bin übrigens Nero." Er drehte sich um, begann die Gasse herabzulaufen und dabei einiges über die Gebäude zu erzählen. Der Bursche mochte gerade einmal 15 Jahre alt sein, besaß allerdings die Selbstsicherheit eines Erwachsenen. Seine kräftige Statur deutete darauf hin, dass er regelmäßig schwere Körperarbeit verrichtete.

Eamon und Wilhelmina gingen nebeneinander her und achteten dabei beide nicht auf ein einziges Wort, welches aus dem Munde des übereifrigen Nero kam. Sie kannten sich beide zu Genüge in den Stallungen aus, also war eine Führung überflüssig. Aber Wilhelmina war froh über die stetige Bewegung und die Gesellschaft, denn sie war sich nicht sicher, wie sie sch Eamon gegenüber verhalten sollte.

„Du bist also für heute die Vertretung, sagst du?", Eamon hatte den Jungen mitten in einer Erläuterung über die verschiedenen Auslaufflächen für die Jungpferde unterbrochen.

Nero blinzelte irritiert und nickte. „Ja, Sir."

Eamon antwortete nicht und die bizarre Dreiergruppe setzte ihren Weg fort. Wilhelmina schaute zu Eamon hinüber und registrierte einen stoischen Gesichtsausdruck, welchen er immer aufgesetzt hatte, wenn er seine eigentlichen Gefühle verbergen wollte. Sie grübelte über den Inhalt seiner Frage nach, kam aber zu keiner schlüssigen Antwort.

„In dieser Richtung liegen schließlich die weiteren Gebäude wie eine Reithalle, das Futterlager-"

„Wir finden den Rest allein", fiel Eamon ihm knapp ins Wort.

Im ersten Moment sah der Junge enttäuscht aus, als wolle er Eamon widersprechen, aber dann zuckte er betont gelassen mit den Schultern und verneigte sich vor Wilhelmina. „Sagen Sie Bescheid, wenn Sie noch einmal meine Hilfe benötigen, Eure Majestät."

Wilhelmina nickte und sah dabei zu, wie Nero wieder in Richtung der Stallungen verschwand, um seiner Arbeit nachzugehen. Schließlich blickte sie zu Eamon. „Was hast du nur gegen den armen Jungen?"

Eamon hob eine Augenbraue und setzte sich dann wortlos in Richtung der angekündigten Gebäude in Bewegung. „Du siehst viel zu häufig das Gute in den Menschen", erwiderte er schließlich.

„Und du viel zu selten." Willow hatte schnell zu ihm aufgeholt und ging nun neben ihm her.

„Ich war sehr überrascht, als ich das Angebot erhalten habe."

Wilhelmina schluckte. „Ich auch."

Eamon nickte. „Gadriel", sagte er trocken.

„Gadriel", bestätigte sie.

„Wie geht es ihm?"

Entgeistert blickte Wilhelmina zu ihm herüber. „Wie bitte?"

Eamon zuckte mit den Schultern und die beiden gingen weiter schweigend nebeneinander her.

„Du kannst ablehnen", sagte Wilhelmina schließlich.

Eamon nickte. „Ich weiß."

Ein weiteres Mal folgte Schweigen. Der Weg zu der Reithalle war Wilhelmina noch nie so lang vorgekommen. Es war, als würde sie darauf zu rennen und sie würde sich mit jedem Schritt weiter entfernen.

„Und wie geht es dir?", fragte sie.

Er warf ihr einen Blick zu und sagte nichts.

„Und Fenna? Und den anderen?"

Wilhelmina war stehengeblieben. Ihr Herzschlag hatte sich immer weiter beschleunigt und nun hatte sie beinahe das Gefühl, es würde ihr aus der Brust springen. Gleichzeitig fühlte es sich an, als würde jemand an ihr ziehen und sie auseinanderreißen. Die Verzweiflung schwappte in Wellen über sie und trieb sie zu Eamon, während die Scham und die Angst sie erstarren ließ.

Als Eamon nicht stehen blieb, packte sie schließlich seine Hand. Bei der Berührung durchfuhr die beiden ein elektrischer Strom. Sie sahen einander für einen Moment lang tief in die Augen und fuhren dann auseinander. Willow atmete schwer. 

„Sprich mit mir!", forderte sie in ihrer Verzweiflung und ihrem Ärger.

Eamon hatte den Arm, an dem Willow ihn berührt hatte, zurückgezogen, als hätte er sich verbrannt. Sein Lächeln war müde und schwach. „Was erwartest du von mir? Willst du wirklich hören, dass es uns allen gut geht und ich mich darauf freue, wieder für dich zu arbeiten?"

„Ich will die Wahrheit."

Eamon schüttelte den Kopf. „Dafür ist es zu spät, Willow."

Er drehte sich um und stapfte wieder zurück in Richtung der Stallungen. Willow blieb allein zurück.






Blind Selection - never give up 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt