70 | ein baldiges Kennenlernen

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Nero

Ich lächelte nicht. Jedenfalls nicht wirklich. Mein Körper folgte den Signalen meines Gehirns, die Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, welches aber eigentlich gar keines war. Doch das schien niemand zu bemerken. Sie sahen nicht hinter diese Maske der Freundlichkeit. Vielleicht wollten sie es auch gar nicht.

Auch Earline hatte es nicht getan. Oh die arme, naive Earline. Sie hatte mich auf ihre stoische, freche und aufgeschlossene Art fasziniert, mein Interesse geweckt. Doch auch sie hatte nur gesehen, was sie sehen wollte. Und das hatte sie langweilig gemacht.

Nun konnte sie allerdings zu einem ernsthaften Problem werden. Es hatte mich kalt erwischt, als sie auf einmal vor dem kleinen Gasthaus, in welchem ich untergekommen war, gestanden hatte. Sie hatte selig vor sich hingelächelt und aufmerksam ihre Umgebung beobachtet, als wäre dieser Ort magisch und voller Geheimnisse, die sie alle aufdecken wollte. In diesem Moment war mein Lächeln erloschen. Jedenfalls innerlich.

Maelle war es natürlich nicht aufgefallen. Ihr fiel nie etwas auf. Sie ähnelte Earline auf eine seltsam interessante Art. Sie war so darauf versessen, die Regeln zu brechen und anders zu sein, dass ihr nicht auffiel, dass sie ebenso war wie all die anderen Mädchen. Sie hatte sich ihrer Familie verschrieben und war doch nicht glücklich mit ihrem Leben. Allein weil ich außerhalb ihres normalen Lebens existierte, mochte sie mich. Ich faszinierte sie ebenso, wie sie mich. Und doch auf eine vollkommen andere Art. Anders als ich hatte sie nicht hinter meine Fassade geblickt. So beseelt von dem Gedanken, sie tue etwas Verbotenes, hatte sie mich nicht weiter hinterfragt - was mir natürlich zugute kam.

Doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie Earline mitbringen würde. Der Plan war beinahe perfekt gewesen. Maelle war perfekt für ihn gewesen. Perfekt für mich. Doch das hätte sie nicht tun dürfen. Jetzt drohte alles einzustürzen.

„Und du bist dir wirklich sicher?" Ich spürte, wie sich zwei dünne Arme von hinten um meinen Bauch schlangen und warme Wangen an meinen Rücken gedrückt wurden.

Ich lachte und drehte mich um, um Maelle in die Augen sehen zu können. „Bis vor ein paar Stunden hättest du alles daran gesetzt, dass ich meine Meinung ändere und nun bist du diejenige, die kneift?", neckte ich sie.

Es war mittlerweile schon spät. Der Tag neigte sich dem Ende zu und es war wieder Zeit, sich zu verabschieden. Allerdings würde es kein Abschied auf eine lange Zeit werden.

Sie verzog den Mund zu einer Grimasse. „Ich kneife nicht! Ich hatte nur nicht mit einem Erfolg gerechnet, das ist alles."

„Wenn du mich dabeihaben willst, werde ich da sein", erklärte ich ihr mit einem ruhigen Lächeln und strich mit meinen Fingerspitzen über die Konturen ihres Gesichts. Sie war so schön. So zerbrechlich.

Sie lächelte beseelt. „Das will ich. Meine Familie wird sich freuen, dich kennenzulernen."

„Oh, da bin ich mir sicher." Ich beugte mich vor und drückte ihr mit einem glitzernden Lächeln einen Kuss auf die Stirn.

Und wie sie mich kennenlernen würden.

Nova Grace Jensen

Als ich aufwachte, war ich zuerst vollkommen orientierungslos. Nicht wie sonst war ich die Erste auf den Beinen - Clementine musste ich zumeist aus dem Bett zerren - sondern es herrschte reges Treiben in unserem Zimmer. Abgesehen von unseren drei Zofen standen weitere Stylisten und Bedienstete durch den Raum verteilt und waren bereits dabei, an Clementine herumzuzupfen.

Ich gähnte und streckte mich, konnte aber nicht um ein leises Kichern herum, als ich Clementines Gesichtsausdruck beobachtete. Es war doch ziemlich gemein, dass gerade sie die Erste von uns beiden sein musste, die hergerichtet wurde. Schließlich benötigte sie ungefähr 10 Stunden mehr Schlaf als ich.

Überhaupt wunderte ich mich, dass wir bereits so früh aufstehen müssten. Natürlich wusste ich, was uns an diesem Samstag bevorstand: Der alljährliche Geburtstagsball für Kronprinzessin Maelle. Auch wir Ladys waren dazu allesamt eingeladen und hatten somit unseren zweiten öffentlichen Auftritt. Doch meines Wissens nach würde dieser Ball erst gegen Abend beginnen.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es gerade einmal 7:44 Uhr war - also definitiv zu früh für Clementine und definitiv zu früh für den Ball.

Pauline, eine unserer Zofen, entdeckte mich in meinem Bett und kam freudestrahlend auf mich zu. „Lady Nova, Sie sind wach! Das ist aber schön! Ich hätte sie in einer Viertelstunde ohnehin geweckt", sie warf einen Blick auf Clementine, „Und nachdem Ihre Freundin mir bereits ein blaues Auge verpasst hat, kann ich eine solche Weckaktion nicht noch einmal gebrauchen."

Ich lachte. „Clementine hat dir ein blaues Auge verpasst?"

Sie winkte lächelnd ab. „Ganz so schlimm ist es nicht, aber ich habe es erst einmal gekühlt. Jetzt bin ich wieder bereit, um mich Ihnen zu widmen."

Ich schlug meine Decke zurück und stieg in meine Pantoffeln. „Dürfte ich mich vorher noch schnell frischmachen?"

Pauline nickte eifrig. „Natürlich. Das Team ist mit Lady Clementine ohnehin im Verzug. Sie stellt sich nicht gerade kooperativ an - was ich bereits vorrausgesagt habe. Deswegen haben wir sie auch als Erste geweckt."

Ich schlüpfte schnell ins Badezimmer, wusch mein Gesicht, ging auf die Toilette und kam dann wieder raus, um mich auf meinen Schminkplatz zu setzen. Pauline, die  sich gerade mit einer befreundeten Zofe unterhielt, kam eilig zu mir herübergelaufen. „Zauberhaft", meinte sie lächelnd, „Haben Sie mit Cora oder Nadine bereits Ihren Look durchgesprochen?"

„Ja", meinte ich und musste ein Gähnen unterdrücken. Clementine und ich hatten am Vortag noch bis spät in die Nacht wachgelegen und uns unterhalten. Ich hatte ihr von meinen Bedenken und Problemen mit Decan erzählt und wie sehr ich ihn trotzdem liebte. Sie hatte witzige Geschichten aus ihrer Kindheit und einige zynischen Bemerkungen über die anderen Ladys beigesteuert, welche mich zum lachen gebracht hatten. Es hatte gut getan, mit einer Freundin abzuschalten und den ganzen Trubel um das Casting zu vergessen.

„Warum müssen wir denn eigentlich so früh hoch?", hakte ich nach, als Pauline sich gerade an meine Haare machte, was sie zuvor mit Cora, ebenfalls eine meiner Zofen, abgesprochen hatte.

Pauline zog verwirrt eine Augenbraue hoch. „Was meinen Sie?"

„Nun, der Ball beginnt doch erst gegen Abend", meinte ich, „Warum werden wir jetzt schon dafür hergerichtet? Ich dachte, wir hätten einen beinahe freien Tag."

Pauline und eine nahestehende Stylistin lachten. „Ach Kind", meinte die Stylistin, „Ein Ball beginnt nicht erst, wenn alle den Saal betreten und er eröffnet wird. Der gesamte Tag vorher wird Proben und den letzten Schliffen gewidmet. Sie sind zwar bei diesem Mal nicht die Hauptpersonen, doch Sie werden ebenfalls Stell- und Tanzproben über sich ergehen lassen müssen."

„Außerdem bekommen Sie einen Tanzpartner für den Eröffnungstanz zugeteilt", ergänzte Pauline.

„Und McKenna wird Ihnen erklären, wie Sie sich zu verhalten haben. Und mit wem Sie sprechen dürfen oder sogar sollten. Was Sie sagen dürfen und was nicht", fuhr die Stylistin fort.

Damit hatte ich gerechnet. „Aber warum dann jetzt schon der Aufzug? Solche Proben können doch auch ohne Kostüm ablaufen." Ich zuckte zusammen, als Pauline etwas zu ruppig mit meinen Haaren umging.

„Entschuldigen Sie", meinte diese rasch und antwortete dann, „Direkt nach dem Frühstück werden schon einmal Aufnahmen für den morgigen Bericht gedreht. Vor allem wird verkündet, welcher der Entwürfe für die Kleider ausgewählt worden ist. Die Königin wird schließlich einen davon heute Abend tragen."

Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als die Zimmertür aufgerissen wurde und ohne anzuklopfen ein ungestümer Wirbelwind hereinplatzte. Ihre braunen Haare schimmerten in der Sonne leicht rötlich und waren vollkommen wirr. Doch ihre grünen Augen blitzten vor Energie und schienen eine wichtige Nachricht übermitteln zu wollen.

Ich hatte sie nur aus den Augenwinkeln gesehen, doch nun fuhr ich mit einem Ruck herum, sodass Pauline enttäuscht aufjaulte, da ich wahrscheinlich gerade meine Frisur verdorben hatte.

Doch das interessierte mich in diesem Moment nicht. Es zählte einzig und allein das Mädchen, welches vor mir stand und mir sowohl Hoffnung als auch Angst schenkte.

„Earline?!"

Blind Selection - never give up 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt