62 | Familienverhältnisse

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Earline

Es war mehr als nur unangenehm schweigend an dem großen Tisch sein Essen zu sich zu nehmen und sich dabei der Stille nur zu gut bewusst zu sein. Ich kaute jeden Bissen länger als eigentlich nötig und vermied jeglichen Blickkontakt.

„Reitest du auch, Earline?" Ich hob den Kopf und blickte direkt in die Augen der Königin. Sie war die Einzige, die versuchte, eine Konversation am Laufen zu halten oder zu beginnen, doch auch sie hatte keinen besonderen Erfolg.

Ich schluckte ein Stück Kartoffel herunter und schüttelte den Kopf. „Nein. Ich meine, ich kann reiten. Aber es ist keine Leidenschaft."

Seit ich herausgefunden hatte, dass mein Vater eine Beziehung mit ihrer Tochter gepflegt hatte, war mir ihre und auch die Anwesenheit der restlichen Familienmitglieder unangenehm. Ich kam mir vor wie in einer riesigen Patchworkfamilie, welche sich eigentlich nicht leiden konnte, gezwungernermaßen allerdings miteinander auskam. Und ich war mir ziemlich sicher, dass die Hälfte der anwesenden Leute mich nicht wirklich mochte.

Den König und die Kronprinzessin kannte ich kaum, doch sie machten beide auch keine Anstalten, diesen Umstand zu ändern. Mit Kaden, Joas und Decan hatte ich mich jeweils höchstens ein Mal unterhalten und die Königin hatte seit dem Beginn des Castings ein misstrauisches Auge auf mich gehabt. Tatsächlich hatte sich sogar herausgestellt, dass einer ihrer Spione meine Freundin Angelique gewesen war.

Natürlich waren da dann noch mein Vater und Lyndon. Allerdings herrschte zwischen Ersterem und mir ebenso eine angespannte Stimmung, wie sie auch am Rest des Tisches in der Luft lag. Wir hatten uns beinahe zwei Monate lang nicht mehr gesehen und ich war mir in dieser Zeit ziemlich sicher gewesen, dass er mir wegen meiner Castingbewerbung grollte. Nun fand ich diese ganzen Dinge über seine Vergangenheit heraus, welche er mir verschwiegen hatte. Das trug nicht gerade zu einem guten Umgang zwischen uns bei.

Und Lyndon. Nun, meiner Gefühle bezüglich ihm war ich mir vollkommen unsicher. Er verwirrte mich, brachte mich regelmäßig auf die Palme und war ein totaler Draufgänger. Er machte schlechte Witze, unerhörte Anspielungen und unsere Gespräche bestanden zu neunzig Prozent aus Sarkasmus und Streit. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich am meisten über ihn ärgerte, während wir uns unterhielten, oder nach den Gesprächen, weil mir noch eine schlagfertige Antwort auf einen seiner Kommentare einfiel.

Und doch konnte ich nicht umhin, ihn attraktiv zu finden. Er sah unglaublich gut aus, das stand außer Frage. Allerdings fühlte ich mich auch auf emotionaler Ebene zu ihm hingezogen, was ich bisher immer geleugnet hatte. Nein, tatsächlich hatte ich es sogar noch nach dem Kuss geleugnet. Wäre mir diese Erkenntnis bereits vorher gekommen, hätte ich der Anziehung niemals nachgegeben. Da war ich mir jedenfalls zu sechzig Pozent sicher.

Zusammengefasst war Lyndon jedenfalls bei diesem Abendessen ebenfalls keine emotionale Stütze, wobei das auch nicht von ihm zu erwarten gewesen war. Seine Anwesenheit verunsicherte mich nur noch mehr, da ich ständig damit beschäftigt war angestrengt nicht in seine Richtung zu schauen. Besonders da nun mein Vater am Tisch saß und seine gesamte Umgebung aufmerksam betrachtete. Er sah so aus, als könne er jeden Moment aufspringen und sich gegen jegliche Angreifer verteidigen.

Möglicherweise war er sogar noch angespannter als ich, was jedoch nicht auf emotionaler sondern körperlicher Lage basierte. Ich hatte keine Angst, jeden Moment ein Messer in meinem Rücken zu spüren, sondern dass die Königin es sich mit ihrer netten Miene anders überlegen und mir unerwartete Vorwürfe auftischen würde. Mein Vater jedoch umfasste seine Gabel derartig fest, dass ich Angst hatte, dass wir sie anschließend würden ersetzen müssen. Wir waren zwar nicht arm, allerdings vermutete ich, dass so eine königliche Gabel ziemlich teuer sein konnte.

Blind Selection - never give up 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt